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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0111
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io8

Grundsätze des Philosophierens

Denn etwas anderes ist es, einen philosophischen Gedanken nur nachzudenken,
ein anderes, ihn wirklich zu vollziehen. Im Vollzug ist mehr als im Ausgesagtsein; im
Vollzug des Denkens bin ich wirklich dabei, werde darin ich selbst. Im Ausgesagten
liegt weniger als der eigentliche Gehalt, sofern die Aussage betrachtet wird als ein Den-
kenkönnen, das ich nur verstandesmässig nach vollziehe; dann werden Aussagen, statt
Haltepunkte erfüllter Bewegungen zu sein, philosophisch entleert. Im Vollzug des Ge-
dankens dagegen bin ich als ich selbst geschichtlich ein Moment des Gedankens; wenn
ich im Gedankenvollzug ein Besonderes verwirkliche, während ich ein Allgemeines
als Gedankeninhalt vor mir habe, so vergewissere ich mich des Seins selbst auf eine in
dem Allgemeinen des Denkbaren jeweils einzige, unvertretbare Weise.
Gemessen an der ewigen Wahrheit ist die besondere Aussage in ihrer Allgemein-
heit für Zeitalter und Situationen charakteristisch. Gemessen an der Allgemeinheit der
Aussageinhalte ist die Wahrheit des besonderen Vollzugs geschichtlich. Das absolut
Geschichtliche ist die Weise der Gegenwart der ewigen Wahrheit.
Daher stehen auch die in dieser Schrift versuchten Grundsätze des Philosophierens
in den Spannungen: in zeitbedingter Gestalt, besonders und veränderbar, auszuspre-
chen, was als Wahrheit gemeint ist; in allgemeinen Aussagen mitzuteilen, was wahr erst
ist, wo ein je Einzelner sie als seine eigenen Gedanken, einmalig für sich, vollzieht. Der
ewige Grund der Wahrheit wird nur im wirklichen Vollzug berührt, die Erscheinung
wird in vorübergehender Denkgestalt gedacht und mitgeteilt. Das Denken im Vollzug
ist mehr als sein mitteilbarer Inhalt, ist weniger als die ewige Wahrheit des Seins selbst.
f. Dialektisches Denken. - Unter den Denkbewegungen, welche im Transcendieren
benutzt werden, spielen die mannigfachen Weisen der Dialektik eine hervorragende
Rolle. Dialektisches Denken heisst das Denken in Gegensätzen, sei es, dass die äusser-
sten Gegensätze einander in Spannung gegenüber gehalten werden, sei es, dass Gegen-
sätze in umfassenden Ganzheiten vereint werden, sei es, dass Ganzheiten in Polaritä-
ten aufgelöst werden, sei es, dass der Stachel des Widersprechenden nur weiter
vorantreibt. Die Logik der Dialektik hat die mannigfachen Arten des Andersseins, des
Gegensatzes, des Widerspruchs zu klären.
Der Verstand sträubt sich gegen dialektisches Denken. Er will immer eindeutig das
Wahre gegen das Falsche setzen und sein Wahres herausheben durch Abstoss gegen
das Falsche. Ihm teilt sich alles in Gegensatzpaare. Er fordert auf, zwischen solchen zu
entscheiden. Auf der einen oder auf der anderen Seite liegt die Wahrheit. Mit dem Er-
greifen eines Wahren soll ständig ein anderes, das Falsche, vernichtet werden. Solches
Verstandesdenken (alternatives Denken) ist angemessen in weiten Bereichen unseres
Erkennens und Verhaltens. Aber die Grenze dieses Denkens liegt dort, wo das Wahre
nicht in solche Alternativen von Aussagen eingeht. Das aber ist überall der Fall, wo das
Denken philosophisch wird, und überall vorher dort, wo schon der Gegenstand als
solcher nur im dialektischen Denken gegenwärtig wird.
 
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