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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0139
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Grundsätze des Philosophierens

b. Moderne Wissenschaft
Es ist kaum ein Zweifel, dass die seit dem 16. Jahrhundert kontinuierlich wachsende mo-
derne Wissenschaft das eigentlich Neue ist seit den beiden grossen Schritten des uns hi-
storisch unbekannten, nur erschliessbaren Ursprungs des Menschen mit Sprache, Werk-
zeug, Gesellschaftsbildung und der historisch deutlichen Achsenzeit der Weltgeschichte
im letzten Jahrtausend vor Chr. Dieses Neue ist von einer Radikalität der Wirkung, die
alles übertrifft, was im Laufe der historischen Jahrtausende geschehen ist. Was aber diese
neue Wissenschaft eigentlich sei, wie sie entstanden sei, darüber ist eine endgiltige Ein-
sicht, in der alle einmütig wären, bisher nicht gewonnen. Das Merkwürdigste ist, dass,
während diese Wissenschaft schon ihre unabsehbaren Wirkungen hat, ein Zweifel dar-
über berechtigt ist, ob die modernen Menschen äusser einer verschwindenden Minder-
zahl, ja ob durchweg die beruflich als Wissenschaft[l]er Tätigen überhaupt dessen inne
sind, was Wissenschaft sei, und ob sie eine verlässliche wissenschaftliche Haltung im
Ganzen haben. Die Herausarbeitung reiner Wissenschaftlichkeit in ihrer Universalität
ist zwar die eigentlich moderne, aber eine bis heute nicht vollendete Bewegung. Viel-
mehr ist die moderne Wissenschaft selber in Gefahr, wieder zugrunde zu gehen.
aa. Unterschied griechischer und moderner Wissenschaft: Es ist die geläufige Auf-
fassung, dass die Griechen die Wissenschaft in die Welt gebracht haben, dass die mo-
derne Wissenschaft seit der Renaissance durch Wiederanknüpfung an die griechische
entstanden, und dass sie deren Fortsetzung sei. Diese Auffassung scheint grundsätz-
lich falsch zu sein, während sie für einzelne, nicht wesentliche Zusammenhänge (Ma-
thematik) richtig ist. Manche der frühesten modernen Forscher haben sich zwar durch
antike Philosophen anregen lassen und haben sich auf sie berufen. Aber was sie dann
taten, war ganz ungriechisch. Wir suchen den Unterschied zu charakterisieren:110
Die Griechen haben viele Ansätze zur Wissenschaft. Sie erwarben konkrete Er-
kenntnisse in Mathematik, Astronomie, Medicin, Geographie, Mechanik, Zoologie,
Botanik, die alles übertreffen, was sonst von Menschen in der Welt gewusst wurde,
wenn sie auch - mit Ausnahme der Mathematik - kümmerlich sind im Vergleich mit
modernem Wissen. Sie entwickelten auf einzelnen Gebieten klare Methoden, aber sie
gewannen einerseits nicht die verlässliche Methodik empirischer Forschung über-
haupt, die sich auf schlechthin alles ausbreitet, was erfahrbar ist, andererseits nicht
die bestimmte naturwissenschaftliche Methode, die in vorwegnehmenden Entwür-
fen versucht, was dann durch Erfahrung bestätigt oder widerlegt wird; daher blieb den
Griechen fremd die experimentelle Methode (sie machten nur grundsatzlos einige
Versuche, diese waren zerstreut, nur in der Mechanik in gewissem Grade systematisch),
und unausgenutzt blieb die Mathematik als Werkzeug der Erfahrung. Die Lektüre der
hippokratischen Schriften zeigt ein Kunterbunt echter Beobachtung, plausibler Deu-
tung, philosophischer Theorien, phantastischen Aberglaubens; diese Medicin steht
der modernen in Haltung, Einsicht, Methode ausserordentlich fern, obgleich im Ein-
 
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