Grundsätze des Philosophierens
153
Wenn der Glaubenslose in der Wissenschaft Ersatz suchte und erfahren wollte, wor-
auf er sein Leben gründen kann - wenn der an der Philosophie Unbefriedigte in der
Wissenschaft die Wahrheit suchte, die allumfassend das Ganze trifft - wenn der an In-
nerlichkeit Arme durch eine in den Wissenschaften genährte endlose Reflexion der ei-
genen Nichtigkeit inne wurde - jedesmal wurde die Wissenschaft nach einer Zeit des
blinden Wissenschaftsaberglaubens Gegenstand des Hasses und der Verachtung. Sind
nun aber diese und ähnliche Wege von ihrem Anfang an in ihrer Unwahrheit durch-
schaubar, so bleibt dennoch die Frage, welchen Wert die Wissenschaft noch habe,
wenn ihre Grenzen so entschieden bewusst geworden sind.
cc. Nutzen und Selbstzweck der Wissenschaft.129 - Seit Bacon und Descartes hat
man den Sinn der Wissenschaft durch ihre Nützlichkeit zu rechtfertigen versucht. Die
technische Anwendbarkeit des Wissens zur Erleichterung der Arbeit, zur besseren Be-
friedigung der menschlichen Bedürfnisse, zur Steigerung der Gesundheit, zur Einrich-
tung staatlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse, schliesslich gar zur Erfindung der
richtigen Moral galten für Descartes als entscheidende Antriebe zur Wissenschaft.130
Jedoch zeigt sich bei näherer Vergegenwärtigung erstens, dass alle technische Anwend-
barkeit Grenzen hat; die Technisierbarkeit ist nur ein Feld innerhalb des viel
umfassende [re] n Bereiches der menschlichen Möglichkeiten überhaupt. Zweitens
zeigt sich, dass die unmittelbare Nützlichkeit der Wissenschaft keineswegs der Antrieb
bei den grossen, begründenden Entdeckungen gewesen ist; sie wurden fern dem Ge-
danken der Anwendbarkeit aus unvoraussehbaren Quellen des forschenden Geistes ge-
wonnen. Die fruchtbare Anwendung in zahllosen besonderen Erfindungen ist daher
zweckhaft erst möglich auf Grund der schon vorhandenen Wissenschaft. Forschungs-
geist und zweckhafter Erfindungsgeist sind wesensverschieden. Es wäre zwar absurd,
den Nutzen der Wissenschaft und das Recht des Betriebs der Wissenschaften im Dienst
der Lebenszwecke bestreiten zu wollen; auch dieser Sinn kommt der Wissenschaft, we-
nigstens einigen Teilen der Wissenschaft, zu. Aber er kann nicht der ganze und nicht
der einzige Sinn der Wissenschaft sein; denn er allein hat die Wissenschaft nicht her-
vorgebracht (die grossen Entdecker waren durchweg keine Erfinder), und allein würde
er ausserstande sein, die wissenschaftliche Forschung auf die Dauer am Leben zu er-
halten.
Im Gegenschlag gegen eine Subalternisierung der Wissenschaft durch Unterord-
nung unter die Zwecke der Technik und Lebenspraxis ist daher mit fragwürdigem Pa-
thos die Wissenschaft als Selbstzweck behauptet worden. Wenn jedoch damit der Wert
schon jeder Tatsachenfeststellung, jeder methodischen Richtigkeit, jeder Erweiterung
irgendeines Wissens behauptet werden sollte, wenn sich jede wissenschaftliche Be-
schäftigung als solche wie ein unantastbar Wertvolles gab, so zeigte sich eine wunder-
liche Verwirrung. Die Endlosigkeit beliebiger Feststellungen, die Zerstreuung der Wis-
senschaften in ein Vielerlei, das in sich keine Bezüge mehr hatte, die Selbstzufriedenheit
153
Wenn der Glaubenslose in der Wissenschaft Ersatz suchte und erfahren wollte, wor-
auf er sein Leben gründen kann - wenn der an der Philosophie Unbefriedigte in der
Wissenschaft die Wahrheit suchte, die allumfassend das Ganze trifft - wenn der an In-
nerlichkeit Arme durch eine in den Wissenschaften genährte endlose Reflexion der ei-
genen Nichtigkeit inne wurde - jedesmal wurde die Wissenschaft nach einer Zeit des
blinden Wissenschaftsaberglaubens Gegenstand des Hasses und der Verachtung. Sind
nun aber diese und ähnliche Wege von ihrem Anfang an in ihrer Unwahrheit durch-
schaubar, so bleibt dennoch die Frage, welchen Wert die Wissenschaft noch habe,
wenn ihre Grenzen so entschieden bewusst geworden sind.
cc. Nutzen und Selbstzweck der Wissenschaft.129 - Seit Bacon und Descartes hat
man den Sinn der Wissenschaft durch ihre Nützlichkeit zu rechtfertigen versucht. Die
technische Anwendbarkeit des Wissens zur Erleichterung der Arbeit, zur besseren Be-
friedigung der menschlichen Bedürfnisse, zur Steigerung der Gesundheit, zur Einrich-
tung staatlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse, schliesslich gar zur Erfindung der
richtigen Moral galten für Descartes als entscheidende Antriebe zur Wissenschaft.130
Jedoch zeigt sich bei näherer Vergegenwärtigung erstens, dass alle technische Anwend-
barkeit Grenzen hat; die Technisierbarkeit ist nur ein Feld innerhalb des viel
umfassende [re] n Bereiches der menschlichen Möglichkeiten überhaupt. Zweitens
zeigt sich, dass die unmittelbare Nützlichkeit der Wissenschaft keineswegs der Antrieb
bei den grossen, begründenden Entdeckungen gewesen ist; sie wurden fern dem Ge-
danken der Anwendbarkeit aus unvoraussehbaren Quellen des forschenden Geistes ge-
wonnen. Die fruchtbare Anwendung in zahllosen besonderen Erfindungen ist daher
zweckhaft erst möglich auf Grund der schon vorhandenen Wissenschaft. Forschungs-
geist und zweckhafter Erfindungsgeist sind wesensverschieden. Es wäre zwar absurd,
den Nutzen der Wissenschaft und das Recht des Betriebs der Wissenschaften im Dienst
der Lebenszwecke bestreiten zu wollen; auch dieser Sinn kommt der Wissenschaft, we-
nigstens einigen Teilen der Wissenschaft, zu. Aber er kann nicht der ganze und nicht
der einzige Sinn der Wissenschaft sein; denn er allein hat die Wissenschaft nicht her-
vorgebracht (die grossen Entdecker waren durchweg keine Erfinder), und allein würde
er ausserstande sein, die wissenschaftliche Forschung auf die Dauer am Leben zu er-
halten.
Im Gegenschlag gegen eine Subalternisierung der Wissenschaft durch Unterord-
nung unter die Zwecke der Technik und Lebenspraxis ist daher mit fragwürdigem Pa-
thos die Wissenschaft als Selbstzweck behauptet worden. Wenn jedoch damit der Wert
schon jeder Tatsachenfeststellung, jeder methodischen Richtigkeit, jeder Erweiterung
irgendeines Wissens behauptet werden sollte, wenn sich jede wissenschaftliche Be-
schäftigung als solche wie ein unantastbar Wertvolles gab, so zeigte sich eine wunder-
liche Verwirrung. Die Endlosigkeit beliebiger Feststellungen, die Zerstreuung der Wis-
senschaften in ein Vielerlei, das in sich keine Bezüge mehr hatte, die Selbstzufriedenheit