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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0157
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Grundsätze des Philosophierens

des specialistischen Wissens bei Menschen, denen im Ganzen Unwissenheit und Blind-
heit eigen war, der Betrieb der Wissenschaften als Massenphaenomen mit dem ständi-
gen Entgleisen in die Endlosigkeiten des blos Richtigen, die Aufhebung des Sinns von
Wissenschaft in diesem Betrieb und zugleich dessen Nutzlosigkeit für Lebenszwecke,
dies alles machte den Selbstzweck der Wissenschaft verdächtig.
dd. Wissenschaft bedarf der Führung.131 - Wenn Wissenschaft sich selbst überlas-
sen wird, gerät sie in Verwahrlosung. Eine Weile kann sie wohl scheinbar aus sich vor-
angehen, wenn sie einmal - aus tieferem Ursprung - in Gang gebracht worden ist. Als-
bald aber zeigen sich die Sinnwidrigkeiten, die allmählich zum Einsturz ihres Gebäudes
zu führen drohen. Wissenschaft ist nicht im Ganzen wahr und lebendig ohne den
Glauben, der sie trägt.
Anders lässt sich dasselbe ausdrücken: Da Wissenschaft sich nicht selbst überlassen
werden kann, braucht sie Führung. Für die Verwirklichung der Wissenschaft ist ent-
scheidend, woher diese Führung kommt und welchen Sinn sie der Wissenschaft gibt.
Weder Nutzen für andere Zwecke noch Selbstzweck kann - wie wir sahen - der we-
sentliche Antrieb zur Wissenschaft sein. Wohl kann die Führung von aussen Wissen-
schaft zu einem Mittel für anderes verwenden. Aber dann bleibt der Sinn der Wissen-
schaft im Ganzen doch verschleiert. Wird dagegen der Endzweck in das wissenschaftliche
Wissen als solches gelegt, so gerät Wissenschaft in die Sinnlosigkeit. Die Führung muss
von innen kommen, aus dem Grund der Wissenschaft selber, aber aus einem alle Wis-
senschaft umgreifenden Ursprung: dieser ist das unbedingte Wissenwollen.132 Die Füh-
rung durch unbedingtes Wissenwollen im Ganzen kann aber nicht zureichend gesche-
hen mit einem vorher gewussten Zweck und angebbarem, unmittelbar zu erstrebendem
Ziel, sondern nur durch etwas, das selbst erst mit der Eroberung von Wissen wacher und
heller wird, durch Vernunft. Wie ist das möglich?
Das ursprüngliche Wissenwollen in uns ist nicht ein beiläufiges Interesse: ein un-
bedingter Drang in uns treibt uns voran, als ob unser Wesen erst im Wissen zu sich
kommen könnte. Kein einzelnes Wissen befriedigt mich, unablässig gehe ich weiter.
Ich möchte mich wissend zum All erweitern.
In dieser Bewegung aus dem ursprünglichen Wissenwollen geschieht die Führung
durch das Eine des Seins. Das Wissenwollen geht nicht in Zerstreutheit auf beliebiges
Einzelnes, sondern durch das Einzelne - da nur dieses geradezu und unmittelbar er-
griffen werden kann - auf das Eine. Ohne den Bezug auf das Eine des Seins verliert Wis-
senschaft ihren Sinn; durch diesen Bezug aber wird sie, selbst noch in ihren speciali-
stischen Verzweigungen, beseelt.
Das Eine aber ist nirgends gradezu zu finden. Immer wieder ist Gegenstand meiner
Wissbarkeit nur ein Einzelnes, ein Mannigfaltiges, ein endlos Vielfaches. Darum ent-
springt die Führung im Wissenwollen ständig aus zwei durch Vernunft ins Grenzen-
lose gesteigerten und gegenseitig auf einander bezogenen Momenten: aus dem Wis-
 
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