Grundsätze des Philosophierens
157
Ist die Unbedingtheit wissenschaftlichen Wissenwollens eine unumgängliche Be-
dingung des Willens zur Wahrheit, so kann, wenn dies einmal im Menschsein wirklich
geworden ist, daran kein Zeitalter etwas ändern. Wem Wissenschaft wirklich aufgeht -
wer also nicht in der endlosen Vielfachheit der harmlos bleibenden Wissbarkeiten (weil
sie nur als Ergebnisse hingenommen, nicht in ihrem möglichen Sinn erlebt sind) und
nicht in dem zweckhaft für Examen und Praxis ausgewählten, in qualvoller Anstren-
gung zu lernenden Stoff hängen bleibt -, dem wird die ausserordentliche Mühe und Ar-
beit beflügelt von einem Enthusiasmus und dem wird Wissenschaft Element seines Le-
bens. Wie jederzeit ist auch heute der Zauber der Wissenschaft zu erfahren, wenn dem
jungen Menschen die Welt weit und hell wird. Und heute ist wie jederzeit (vielleicht
noch gesteigert) die Schwere der Wissenschaft zu erfahren, nämlich die Gefahr des Wis-
sens für die vorher bestehende naive Kraft des Unbewussten und für die Lebenslügen. Es
ist Tapferkeit nötig, wenn einer nicht gleichgültig lernt[,] sondern fragend begreift. Da-
her gilt noch immer: sapere aude!134
ff. Wissenschaft und Philosophie.135 - Zusammenfassend lassen sich einige Sätze
über das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft aussprechen.
Wenn beide nicht zusammenfallen, die Philosophie nicht auch eine Wissenschaft
neben den anderen Wissenschaften ist, so sind doch beide eng aneinander gebunden.
Wenn behauptet wurde, das Unheil des modernen Denkens sei die Trennung von Wis-
senschaft und Philosophie, früher habe die Wahrheit als eine ihre Kraft und Frucht-
barkeit gehabt, die sie in der Trennung einbüsse, so ist solche Behauptung nur richtig
einerseits gegen führungslose Wissenschaft, geistlose Specialisierung und Technisie-
rung, andererseits gegen schwärmerische, unkritische Philosophie. Fruchtbar ist heute
die Polarität in der Trennung von Wissenschaft und Philosophie, ist das lebendige Ver-
hältnis beider zu einander.
1: Wissenschaft verhält sich zur Philosophie: Wissenschaft wehrt sich gegen den
falschen Anspruch von Philosophen, die Wissenschaft ihrerseits noch zu begründen;
denn einer solchen Begründung bedarf die Wissenschaft nicht. Sie wehrt ab die Ver-
suche von Philosophen, welche ohne Wissenschaft und vor der Wissenschaft das Sein
erfassen wollen, derart[,] dass ihr apriori Erkanntes auch für die Wissenschaften als de-
ren Voraussetzung gelte und ihnen den Rahmen des Seienden gebe. Wissenschaft
wehrt sich gegen die Verwirrung durch Vermischung mit Philosophie, wendet sich ge-
gen Spekulation als eine Störung durch leere Bemühungen, entwickelt eine für sie ty-
pische Philosophiefeindschaft.
Aber Wissenschaft vermag auch ihre eigenen Grenzen zu erkennen. Da sie nicht alle
Wahrheit begreift, gibt sie der Philosophie freien Raum auf deren eigenem Felde, sie we-
der bejahend noch verneinend, sondern sie in ihrem Denken nicht störend, so lange
Philosophie nicht Urteile inbezug auf Gegenstände fällt, die der wissenschaftlichen
Forschung zugänglich sind. Wissenschaft sieht dem Philosophieren auf die Finger, dass
157
Ist die Unbedingtheit wissenschaftlichen Wissenwollens eine unumgängliche Be-
dingung des Willens zur Wahrheit, so kann, wenn dies einmal im Menschsein wirklich
geworden ist, daran kein Zeitalter etwas ändern. Wem Wissenschaft wirklich aufgeht -
wer also nicht in der endlosen Vielfachheit der harmlos bleibenden Wissbarkeiten (weil
sie nur als Ergebnisse hingenommen, nicht in ihrem möglichen Sinn erlebt sind) und
nicht in dem zweckhaft für Examen und Praxis ausgewählten, in qualvoller Anstren-
gung zu lernenden Stoff hängen bleibt -, dem wird die ausserordentliche Mühe und Ar-
beit beflügelt von einem Enthusiasmus und dem wird Wissenschaft Element seines Le-
bens. Wie jederzeit ist auch heute der Zauber der Wissenschaft zu erfahren, wenn dem
jungen Menschen die Welt weit und hell wird. Und heute ist wie jederzeit (vielleicht
noch gesteigert) die Schwere der Wissenschaft zu erfahren, nämlich die Gefahr des Wis-
sens für die vorher bestehende naive Kraft des Unbewussten und für die Lebenslügen. Es
ist Tapferkeit nötig, wenn einer nicht gleichgültig lernt[,] sondern fragend begreift. Da-
her gilt noch immer: sapere aude!134
ff. Wissenschaft und Philosophie.135 - Zusammenfassend lassen sich einige Sätze
über das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft aussprechen.
Wenn beide nicht zusammenfallen, die Philosophie nicht auch eine Wissenschaft
neben den anderen Wissenschaften ist, so sind doch beide eng aneinander gebunden.
Wenn behauptet wurde, das Unheil des modernen Denkens sei die Trennung von Wis-
senschaft und Philosophie, früher habe die Wahrheit als eine ihre Kraft und Frucht-
barkeit gehabt, die sie in der Trennung einbüsse, so ist solche Behauptung nur richtig
einerseits gegen führungslose Wissenschaft, geistlose Specialisierung und Technisie-
rung, andererseits gegen schwärmerische, unkritische Philosophie. Fruchtbar ist heute
die Polarität in der Trennung von Wissenschaft und Philosophie, ist das lebendige Ver-
hältnis beider zu einander.
1: Wissenschaft verhält sich zur Philosophie: Wissenschaft wehrt sich gegen den
falschen Anspruch von Philosophen, die Wissenschaft ihrerseits noch zu begründen;
denn einer solchen Begründung bedarf die Wissenschaft nicht. Sie wehrt ab die Ver-
suche von Philosophen, welche ohne Wissenschaft und vor der Wissenschaft das Sein
erfassen wollen, derart[,] dass ihr apriori Erkanntes auch für die Wissenschaften als de-
ren Voraussetzung gelte und ihnen den Rahmen des Seienden gebe. Wissenschaft
wehrt sich gegen die Verwirrung durch Vermischung mit Philosophie, wendet sich ge-
gen Spekulation als eine Störung durch leere Bemühungen, entwickelt eine für sie ty-
pische Philosophiefeindschaft.
Aber Wissenschaft vermag auch ihre eigenen Grenzen zu erkennen. Da sie nicht alle
Wahrheit begreift, gibt sie der Philosophie freien Raum auf deren eigenem Felde, sie we-
der bejahend noch verneinend, sondern sie in ihrem Denken nicht störend, so lange
Philosophie nicht Urteile inbezug auf Gegenstände fällt, die der wissenschaftlichen
Forschung zugänglich sind. Wissenschaft sieht dem Philosophieren auf die Finger, dass