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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0164
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Grundsätze des Philosophierens

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stand der Erkenntnis ist stets ein Partikulares, Aspekthaftes, Perspektivisches, logisch
ausgedrückt ein in bestimmten Kategorien mit bestimmten Methoden Fassliches.
Dieser einfache Grundgedanke erfasst einen einfachen Sachverhalt. Jedoch ist
seine Formulierung und Vergegenwärtigung so umständlich, weil es sich in ihm nicht
um eine gegenständliche Erkenntnis, sondern um eine Erkenntnis des Sinns aller Ge-
genständlichkeit handelt, oder anders, weil nicht ein besonderer Gegenstand begrif-
fen, sondern über alles Gegenständliche transcendiert werden muss, um mit dem Ge-
danken dieses Grundsachverhalts innezuwerden. Der gleiche einfache Gedanke kann
immer wieder anders ausgesprochen und umkreist werden:
1) Die Objektivierung ist unentrinnbar, sofern wir überhaupt erkennen wollen. Mag
das Innewerden in aufgehobener Subjekt-Objekt-Spaltung die tiefste Seinsgegenwär-
tigkeit bedeuten können, von ihr ist doch nicht zu reden. Dieses Innewerden wäre
mehr als Erkenntnis, weil dem Sein im Ganzen absolut nahe. Sie wäre weniger als Er-
kenntnis, weil unaussprechbar, daher unmitteilbar, daher kein Wissen.
2) Das Wissen um die Objektivierung und um die Weise der jeweiligen Objektivie-
rung ist Bedingung für die Wahrheit des Seinsbewusstseins, das jeweils mit einem Wis-
sen verknüpft sein kann.
3) Gegenständliches Wissen, das nicht aufgehoben ist in dem es beseelenden
Grunde des Seinsbewusstseins, dem es dient, ist endlos, zerstreut, beliebig. Es ist tot
wie trockener Sand, ohne Halt und ohne Gestalt.
4) Wird das Objekt des Wissens für das Sein selbst genommen, so versinkt vor der
Verabsolutierung eines solchen besonderen Erkenntnisgegenstandes der Reichtum der
Welt. So wurde z.B. die Natur als die Realität der Materie und ihrer Verwandlungen nicht
nur in einer specifischen Universalität erkannt, sondern auch verabsolutiert. Gegen
diese Absolutheit der Realität der Materie (Materialismus) richtete sich der sogenannte
Positivismus: wir erkennen nicht ein Ansich, auch nicht ein Ansichsein der Materie, son-
dern wir beschreiben Erscheinungen; die jeweils wahrste Erkenntnis ist die kürzeste
(denkökonomischste) und folgenreichste Beschreibung, aber jede Erkenntnis ist zu-
gleich Irrtum, weil bessere, kürzere, beherrschendere Beschreibungen möglich bleiben.
Gegen solchen Positivismus wiederum, dem die Realität des Seins verschwindet, wandte
sich der sogenannte kritische Realismus: Erkenntnis ist nicht blosse Beschreibung, nicht
blos zweckmässige, denkökonomische Fassung (sie kann dies alles auch sein), sondern
sie ist wesentlich das Herausarbeiten der Realität; ihr Antrieb ist der Wille zur Sache als
Realität; Beschreibung ist eines der Erkenntnismittel, aber der Erkenntnis wäre ihr Sinn
genommen, wenn sie auf das Erfassen der Realität verzichtete. Gegen diesen kritischen
Realismus wendet sich schliesslich die Philosophie des Umgreifenden: der transcendie-
rende Gedanke überzeugt sich von der Erscheinungshaftigkeit jeder Weise der erkenn-
baren Realität, zerstört mit dem Positivismus die Verabsolutierungen, geht mit dem kri-
tischen Realismus auf die jeweils erkennbare Realität, welche mehr ist als methodische
 
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