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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0175
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Grundsätze des Philosophierens

zur Nivellierung des Erkennens; sie ist Beruhigung in falschen Grundsätzen. Sie ist kein
objektivierbarer Gegenstand.
cc. Die Geisteswissenschaften: Die Objektivierung in den Geisteswissenschaften
hat ihren Boden in der Objektivität der Dokumente, Monumente, in Texten, Werken
der Kunst und der Technik, in allen Hinterlassenschaften des Menschen, die sinnlich
greifbar, d.h. auch photographierbar sind.
Aber als Gegenstand der Geisteswissenschaften bedarf diese sinnliche Objektivität
der Deutung. In der unermesslichen Fülle des Wahrnehmbaren ist das vom Menschen
Hervorgebrachte durch Verstehen des in ihm gemeinten Sinns unterschieden. Den ein-
samen Wanderer in der Wüste, der im Sande ein Dreieck gezeichnet findet, lässt Kant
ausrufen: vestigium hominis video.147 Nicht Sinneswahrnehmung, sondern innerliches
Aneignen, nicht Erklären von aussen, sondern Verstehen aus dem inneren Wesen der
Sache und des Menschen ist der Ausgang geisteswissenschaftlicher Forschung.
Verstehen ist der methodologische Grundbegriff der Geisteswissenschaften. Der
Weg des Verstehens in seiner Gliederung und Stufung ist ungemein verwickelt, wenn
man ihn logisch vergegenwärtigt, und wenn man ihn im concreten Vollzug geistes-
wissenschaftlicher Erkenntnis prüft.
i. Arten des Verstehens: Ich verstehe eine Sache (z.B. einen mathematischen Ge-
danken) oder ich verstehe den die Sache Verstehenden (z.B. den Mathematiker in den
Motiven seines Denkens). Ist die Sache ein Inhalt des Denkens, so verstehe ich ratio-
nal; ist der Verstehende als Dasein der Seele gemeint, so verstehe ich psychologisch.
Aber die Sachen umfassen viel mehr als die rationalen Inhalte, das Subjekt ist mehr als
das, was in ihm psychologisch verstehbar ist.
Die Sachen: Verstehen rationalen Sinns ist eindeutig möglich. Der von einem Men-
schen gemeinte Sinn - im wissenschaftlichen Werk, im Gesagten und zweckhaft Ge-
tanen - ist in einer einzigartigen Objektivität feststellbar. Das Subjekt des so Verstan-
denen ist das Bewusstsein überhaupt.
Geistige Gebilde, wie Mythen, Kunstwerke, religiöse Gehalte[,] erfordern zum Ver-
stehen mehr als Bewusstsein überhaupt. Was in dem überall in grenzenlosen Bedeutun-
gen schwingenden Bildsinn, was im aesthetischen Sinn der Form, was im religiösen Sinn
offenbar werdender Transcendenz gemeint ist, wenn es in Strukturen des Bewusstseins
überhaupt (wie alles zum Objekt Werdende) gegenwärtig ist, das ist nicht mit dem Den-
ken allein zu fassen. Verstehen geschieht hier aus der Erfahrung des eigenen Umgreifen-
den in Ideen des Geistes, in Entscheidungen der Existenz, im Hören der Sprache der
Transcendenz.
Die Subjekte: Subjekte werden psychologisch verstanden als Dasein aus Antrieben,
Interessen, vitalen Bedürfnissen, aus dem Unbewussten, das im Bewussten wirkt, in
Mechanismen, die psychophysiologisch Ablauf und Entfaltung des Erlebens in ihren
Bahnen halten.
 
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