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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0204
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Grundsätze des Philosophierens

201

Nun sind beide Möglichkeiten so abenteuerliche Gedanken, dass man behaupten
darf: beide sind vielmehr unmöglich. Die Entstehung aus dem Leblosen wurde umso
unwahrscheinlicher, je mehr die Erkenntnis des Lebens vorgeschritten ist. Vielleicht ist
sogar der Erweis der grundsätzlichen Unmöglichkeit zu bringen aus der Unendlichkeit
der Zweck-Mittel-Verhältnisse in jedem lebendigen Organismus; oder es ist die prakti-
sche Unmöglichkeit der Lebensentstehung zu beweisen aus der extremen Unwahr-
scheinlichkeit des Zusammenkommens der Zufälle, die man für den Akt der Lebensent-
stehung voraussetzen müsste. Die Herkunft des Lebens aus zugeflogenen Keimen ist
wiederum unmöglich oder doch extrem unwahrscheinlich wegen der ungeheuren Kälte
im Weltall, wegen der grossen Entfernungen, die ein Lebendbleiben von Keimen durch
Zeiten erfordern, die für alle uns bekannten Lebenskeime ausgeschlossen sind. Zudem
wäre nicht die Herkunft des Lebens begriffen, sondern der unbegreifliche Abgrund zwi-
schen dem Leben und dem Leblosen in den Weltgrund selbst verlegt.
Wo solche Unbegreiflichkeit auftritt, half man sich oft mit Redensarten (es handle
sich um Übergänge, in Übergängen entwickele sich das Lebendige aus dem Leblosen,
man werde es doch noch eines Tages begreifen); oder man sprach gegen die Unbegreif-
lichkeit geradezu die Voraussetzung der Begreifbarkeit aus (man habe die Wahl zwi-
schen einer begrenzten Zahl von Möglichkeiten, in unserem Fall zwischen zwei Mög-
lichkeiten; wenn man nicht die Absurdität principieller Unbegreiflichkeit vertreten
wolle, so müsse man diese oder jene relativ wahrscheinlichste Möglichkeit acceptie-
ren); oder man stellt - im Ernst oder Scherz - phantastische Hypothesen mythischen
Charakters auf, die statt zu begreifen, vielmehr die Unbegreiflichkeit indirekt grell be-
leuchten.
Solcher Art ist in der Ausweglosigkeit vor der Frage nach der Herkunft des Lebens
und vor dem Sprunge zwischen dem Lebendigen und dem Leblosen folgender phan-
tastische Gedanke gedacht worden: Das Weltsein ist an sich Leben; nicht die Entste-
hung des Lebens ist zu erklären, sondern die Entstehung des Leblosen; alles Leblose,
die Materie, die leblose Erdmasse, der Kosmos ist Ausscheidung oder Leichnam von
Leben.
Aber mit solcher phantastischen Vorstellung ist das Leblose, das ein eigenes, in sich
erfülltes Sein ist, fälschlich in ein Totes verwandelt. Das umgreifende Weltsein, an sich
voller Geheimnis, ist in diesem Gedanken entartet zu dem toten Mechanismus des
physikalisch und chemisch Erkannten.
Auf ähnliche Weise kennzeichnen in den beiden anderen Fragen groteske Vorstel-
lungen - von Philosophen gelegentlich für ernst und wahr gehalten - die Unbegreif-
lichkeit:
b) Die grossen typischen Gestaltungen des Pflanzen- und Tierreichs folgen als die
Weltzeitalter des Lebens nacheinander auf der Erdoberfläche. Sie sind aus den Verstei-

nerungen zu rekonstruieren. Die Frage ist, wie sie aus einander hervorgegangen sind.
 
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