Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0222
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Grundsätze des Philosophierens

219

oder wir stehen der Natur gegenüber, wissen von ihr, sehen in ihra zwar ein Verwand-
tes, sofern wir auch diese Natur sind, aber so, dass das Fremde des Naturseins bleibt
und das eigene Natursein unter der Frage steht, weil wir leben aus einem ausserhalb
der Natur; wir blicken dann gleichsam durch die Natur hindurch, aber wissen auch ih-
ren unergründlichen Widerstand als Bedingung und als unumgänglichen Weg unse-
res Daseins. Die erste Möglichkeit des Aufgehens in der Natur vermögen wir nicht zu
vollenden, denn wir bleiben Menschen, auch wenn wir nur Natur sein wollen; der
Mensch wird das eigentlich Schreckliche, Schaurige, zerstörerisch Böse in der Welt,
denn er kann, nach Aristoteles [’] Wort, nur mehr oder weniger als ein Tier, aber nie ein
Tier sein.168 Die zweite Möglichkeit, uns der Natur gegenüberzustellen, vermögen wir
auch nicht zu vollenden, aber in ihr wird uns Wahrheit und Wirklichkeit hell, werden
wir als Menschen uns des Raums bewusst, in dem wir uns aufschwingen können, wenn
wir auch im Zeitdasein weder die Vollendung noch ein endgiltiges Ziel erreichen. Auf
diesem Wege ist uns die Bodenlosigkeit der Natur nicht mehr ein Mangel, sondern eine
wesentliche Realitätb, die uns das Selbstwerden ermöglicht; die Grenze des Wissens
bleibt uns nicht nur Einschränkung, sondern wird Aufgabe des Philosophierens; mit
dem Wissen gewinnen wir über alles Wissen hinaus unser Seinsbewusstsein.
a. Die Bodenlosigkeit der Welt und die Freiheit des Menschen. - Wäre die Welt in
dem, was ich als Weltsein erkennen kann, ein in sich geschlossenes Ganzes, aus sich
begreifbar, ohne Widerspruch in sich, ein harmonisches Totalgeschehen, eine durch-
gehende Zweckhaftigkeit in einem eindeutigen Verursachungsgewebe, so wäre diese
Welt das Sein selber, äusser dem nichts anderes wäre. Die Welt wäre eins mit Gott, Gott
nichts anderes als dieses Ganze der Welt.
Es ist in unserem Denken eine hartnäckige Tendenz, auf jeder Stufe unseres Welt-
begreifens die Welt als Ganzes so zu denken, dass sie das Sein an sich ist. Das Princip
des Weltseins wird als Atom, Materie, Energie, als Leben, als Weltprocess uns gegen-
ständlich vor Augen gestellt, so dass alles, was ist, und wir selber abgeleitet werden aus
dem gewussten Weltsein im Ganzen.
Aber dem kritischen Erkennen selber wird es mit dem Wachsen seiner Klarheit un-
ausweichlich einsichtig: Erkanntes Weltsein wird kein Boden, auf den ich treten kann
mit dem Bewusstsein, nunmehr das Sein selbst zu haben. Wie immer wir dieses versu-
chen, geraten wir in die Verfestigung einer Täuschung, die alles Sein aus einem be-
stimmten gegenständlich gewordenen, kategorial specifischen Sein ableiten möchte
und sich bei solcher Verabsolutierung, ohne weitere Erkenntnis zu gewinnen, in blosse
Vorstellungen verliert.

a in ihr im Ms. hs. Vdg. für im Fremden
b Realität im Ms. hs. Vdg. für Wirklichkeit
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften