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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0233
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Grundsätze des Philosophierens

gebrachte immer nur aus einem »mehr als Natur« zu verstehen, hat seinen Grund in ei-
ner Freiheit, die niemals natürlich erkannt werden kann, äusser in ihren Wirkungen.
2. Das Geschehen als geistige Verwandlung: Auf dem Grunde und innerhalb des
Naturgeschehens ist die eigentliche Geschichte ein geistiger Process. Geistige Verwirk-
lichung bringt aber immer sogleich auch geistige Verwandlung. Daher ist das Geistige
als solches auf einzige Weise geschichtlich: durch geistige Verwirklichung erwachsen
neue geistige Möglichkeiten, die ergriffen oder versäumt werden.
Immer kommt der einzelne Mensch zu sich in einer Welt, deren Verständnis er
schon vorfindet und unwillkürlich nachahmend mitvollzieht. Er wächst hinein in die
durch seine Erziehung ihm vermittelten Gehalte. Was jeweils in einem geschichtli-
chen Kreise Grundlage des Menschseins geworden ist, ist ihm das selbstverständlich
Allgemeine der gütigen Überlieferung.
Diese Welt aber ist in fortdauernder Umgestaltung3. Sie ist ein Ganzes, das niemand
weiss. Es liegen in ihr Zusammenhänge geistigen Geschehens, ohne dass diese geplant
wären. Es gibt eine Ordnung des geistigen Geschehens, die sich verwirklicht, ohne ge-
wollt zu sein. Wenn die vorsokratischen Philosophen die abendländische Philosophie
beginnen, die für sie in ihren ersten Entwürfen schon vollendet scheint, wissen sie
nicht, was darin verborgen liegt und was daraus werden wird. Wenn Planck die Quan-
tentheorie aufstellt, ahnt er nicht, welche neue Welt des Naturwissens daraus erwach-
sen muss. Als zu Beginn des 17. Jahrhunderts die englischen Verfassungskämpfe ihren
nicht mehr unterbrochenen Gang nehmen, liegt für die ersten Kämpfe ausserhalb ih-
res Horizonts, was daraus schliesslich 1688 als englische Ordnung hervorgeht. Diese
Unbewusstheit geistigen Geschehens, das erst rücklaufend sich seiner selbst bewusst
werden kann und mit seiner Durchleuchtung weiter vorantreibt, ist etwas ganz ande-
res als das Nichtgewusste des Naturgeschehens, das als ein Undurchdringliches13, Frem-
des nur rein gegenständlich ins Unendliche für den Menschen erkennbar, nie sich
selbst durchsichtig wird.
Es ist das grossartige Thema der Geschichtsforschung, die unübersehbare Mannig-
faltigkeit dieses geistigen Geschehens konkret zu erfassen. Man sieht, wie der Mensch
immer verstehen muss, was ihm als geistige Hervorbringung - vom Werkzeug bis zum
abstrakten Gedanken - jeweils überliefert wird, wie aber das lebendige Verstehen im
Hören, Deuten, Aneignen durchweg ein verwandelndes Hervorbringen wird. Sogar
das Commentieren alter Texte wird nicht selten eine Form schaffenden Denkens. Nir-
gends fängt der Mensch von vorn an. Immer findet er Ausgangspunkte. Die Frage kann
dann weiter z.B. sein, was aus dem Überlieferten herausgeholt wird, weil es als Keim
darin lag, - oder was anlässlich eines Sinnes als etwas ganz anderes ursprünglich und

a Umgestaltung im Ms. hs. Vdg. für Verwandlung
b Undurchdringliches im Ms. hs. Vdg. für Anderes
 
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