Grundsätze des Philosophierens
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neu anfangend gedacht wird, - oder was aus dem dialektischen Umschlag in den Ge-
gensatz entsteht, - oder was in Synthesen erwächst.
3. Das Bildwerden der Geschichte: Geschichte wird uns zum Bilde. Es steht uns vor
Augen, was Menschen getan und hervorgebracht haben, und was sie darin selber wa-
ren. Dieses Bildwerden ist vielfacher Art. Wir sehen Werke und Inhalte des Gedachten,
sehen Ordnungen und Zustände, sehen Taten in ihrem gemeinten Sinn und in ihrer
realen Wirkung. So mannigfach unser »Verstehen« ist, so mannigfach sind auch die
Bilder des Verstandenen.
Das Verstandene suchen wir ineinszufassen. Wir suchen zu vergegenwärtigen, in wel-
chem Grundwissen Menschen lebten, in welchen Symbolen sie ihr Seinsbewusstsein im
Ganzen vollzogen, in das alles besondere Verstehbare als Moment eingegliedert war.
Dabei machen wir die Erfahrung, dass wahre Bilder des je einen Ganzen uns nicht
entstehen. Auf dem Wege zu ihnen bemerken wir vielmehr, wie die Bewegung der
menschlichen Geschichte gerade darin begründet ist, dass keine Vollendung stattfin-
det, sondern in jedem scheinbaren Abschluss schon die Momente des Durchbruchs
wirksam sind. Wir werden im Verstehen der Geschichte unaufhaltsam zu unserem ei-
genen Menschsein und seiner Bewegung geführt. Wir werden wir selbst, wenn wir das
Vergangene verstehen. Wir werden unserer Geschichtlichkeit bewusst, wenn wir in
den Sachen die Sache unserer aller als Menschen wahrnehmen. Es handelt sich um
uns selbst, wenn wir Geschichte verstehen und jede abschliessende Einheit uns ent-
gleiten sehen, weil sie unhaltbar ist.
Aber es gibt ein Grundphaenomen, das einen anderen Weg zur Einheit zu weisen
scheint: alles ist Ausdruck eines Wesens. Wir erblicken Charaktere der Völker, Zeital-
ter, Kulturen, der einzelnen Menschen in ihrem Dasein, Tun, Hervorbringen. Sehen
wir alles als Ausdruck, so ist unser sachliches Verstehen nur ein Durchgang, wie das
Verstehen der Schriftformen für das Ausdrucksverstehen der graphologischen Deu-
tung. Was in der Sache erfasst wird, ist nicht als solches, sondern als Ausdruck charak-
teristisch. Alles Verstehbare hat seine Einheit in dem Ausdrucksein für ein alles durch-
dringendes Wesen.
Das Grundphaenomen des Ausdrucks ist universaL Die gesamten Erscheinungen
der Welt und des Menschen haben diesen Zug des Bedeutens. Es ist[,] als ob wir überall
im Äusseren ein Inneres wahrnehmen, als ob alle Erscheinung Physiognomik sei.171 Wir
sind umgeben von physiognomisch wahrgenommenen Seelen. Nur das Mass unserer
Sensibilität oder Stumpfheit entscheidet darüber, wie weit, wie reich, wie tief wir im
Ausdrucksverstehen mit den Erscheinungen unmittelbar leben. Das ist vor allem ge-
genüber der Geschichte der Fall, wo in allem von Menschen Hervorgebrachtena sich
Ausdruck menschlichen Wesens und besonderer Charaktere zeigt, von der Handschrift
statt Hervorgebrachten im Ms. und in der Abschrift Gertrud Jaspers Hervorgebrachtem
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neu anfangend gedacht wird, - oder was aus dem dialektischen Umschlag in den Ge-
gensatz entsteht, - oder was in Synthesen erwächst.
3. Das Bildwerden der Geschichte: Geschichte wird uns zum Bilde. Es steht uns vor
Augen, was Menschen getan und hervorgebracht haben, und was sie darin selber wa-
ren. Dieses Bildwerden ist vielfacher Art. Wir sehen Werke und Inhalte des Gedachten,
sehen Ordnungen und Zustände, sehen Taten in ihrem gemeinten Sinn und in ihrer
realen Wirkung. So mannigfach unser »Verstehen« ist, so mannigfach sind auch die
Bilder des Verstandenen.
Das Verstandene suchen wir ineinszufassen. Wir suchen zu vergegenwärtigen, in wel-
chem Grundwissen Menschen lebten, in welchen Symbolen sie ihr Seinsbewusstsein im
Ganzen vollzogen, in das alles besondere Verstehbare als Moment eingegliedert war.
Dabei machen wir die Erfahrung, dass wahre Bilder des je einen Ganzen uns nicht
entstehen. Auf dem Wege zu ihnen bemerken wir vielmehr, wie die Bewegung der
menschlichen Geschichte gerade darin begründet ist, dass keine Vollendung stattfin-
det, sondern in jedem scheinbaren Abschluss schon die Momente des Durchbruchs
wirksam sind. Wir werden im Verstehen der Geschichte unaufhaltsam zu unserem ei-
genen Menschsein und seiner Bewegung geführt. Wir werden wir selbst, wenn wir das
Vergangene verstehen. Wir werden unserer Geschichtlichkeit bewusst, wenn wir in
den Sachen die Sache unserer aller als Menschen wahrnehmen. Es handelt sich um
uns selbst, wenn wir Geschichte verstehen und jede abschliessende Einheit uns ent-
gleiten sehen, weil sie unhaltbar ist.
Aber es gibt ein Grundphaenomen, das einen anderen Weg zur Einheit zu weisen
scheint: alles ist Ausdruck eines Wesens. Wir erblicken Charaktere der Völker, Zeital-
ter, Kulturen, der einzelnen Menschen in ihrem Dasein, Tun, Hervorbringen. Sehen
wir alles als Ausdruck, so ist unser sachliches Verstehen nur ein Durchgang, wie das
Verstehen der Schriftformen für das Ausdrucksverstehen der graphologischen Deu-
tung. Was in der Sache erfasst wird, ist nicht als solches, sondern als Ausdruck charak-
teristisch. Alles Verstehbare hat seine Einheit in dem Ausdrucksein für ein alles durch-
dringendes Wesen.
Das Grundphaenomen des Ausdrucks ist universaL Die gesamten Erscheinungen
der Welt und des Menschen haben diesen Zug des Bedeutens. Es ist[,] als ob wir überall
im Äusseren ein Inneres wahrnehmen, als ob alle Erscheinung Physiognomik sei.171 Wir
sind umgeben von physiognomisch wahrgenommenen Seelen. Nur das Mass unserer
Sensibilität oder Stumpfheit entscheidet darüber, wie weit, wie reich, wie tief wir im
Ausdrucksverstehen mit den Erscheinungen unmittelbar leben. Das ist vor allem ge-
genüber der Geschichte der Fall, wo in allem von Menschen Hervorgebrachtena sich
Ausdruck menschlichen Wesens und besonderer Charaktere zeigt, von der Handschrift
statt Hervorgebrachten im Ms. und in der Abschrift Gertrud Jaspers Hervorgebrachtem