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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0235
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232 Grundsätze des Philosophierens
bis zu den sublimsten geistigen Werken, von der Stimmung eines Bauernhofs und ei-
ner Stadt bis zum Ausdruckssinn von Verfassungen der Staaten, von aktiven Handlun-
gen bis zu Schicksalserleidungen. Unser physiognomischer Blick ist wirksam bei erster
Berührung und noch bei genauester Kenntnis, gegenüber unmittelbar Wahrnehmba-
rem und gegenüber Tatbeständen, die erst durch Forschung vor Augen kommen.
Es ist eine eigentümliche Befriedigung im Ausdrucksverstehen. Man glaubt das We-
sen des Ganzen mit einem Schlage zu haben. Aber es ist eine Täuschung. Sie verführt
durch die Leichtigkeit, mit der Wesentliches ergriffen zu sein scheint.
Erstens wird im Ausdrucksverstehen das Gesehene schwebend und vieldeutig. In
der scheinbaren Klarheit der Intuition ist der Gegenstand in der Tat unfasslich. Jede
entschiedene Bestimmung des Wesens oder Charakters erweist sich als Verabsolutie-
rung einer Wahrnehmungsmöglichkeit und als falsch, wenn sie endgiltig sein will.
Zweitens ist das als Ausdruck Gesehene für uns unverbindlich. Es ist aesthetisch di-
stanciert geworden. Statt in der Sache des Menschen leben wir im Bildgewordenen. Wir
sind der Antriebe beraubt, die aus der Teilnahme entstehen3 an dem, was auch wir sel-
ber sind, was wir suchen und wollen. Wir ruhen aus im physiognomischen Blick. Es
folgt nichts. Es ist, als ob die Welt der Erscheinungen des Menschen nichts sei als ein
zweckfreies Sichzeigen eines Inneren, ein einziges grosses Spiel unbewusster Selbstdar-
stellung eines Unbekannten für niemand anders als diesen physiognomischen Blick
des Zuschauens. Wenn dieses Physiognomiesein auch in der Tat ein Zug des Erschei-
nens, wie der Welt überhaupt so auch des Menschen, ist, so doch ein solcher, der uns
von dem Ernst der eigenen Beteiligung zu befreien verführt. Je mehr wir dem Aus-
drucksverstehen uns hingeben, desto matter scheint unser eigenes Wesen im Reichtum
des unverbindlich Gesehenen zu werden.
Es ist daher wie eine Weggabelung historischer Anschauung, ob wir uns dem Bil-
den des Ausdrucks überlassen und eine Gestaltenfülle historischer Bilder als die letzte
Einheit der Geschichte für uns gelten lassen, oder ob wir eindringen in die Geschichte
durch Teilnahme an den Sachen und durch Eintritt in die Bewegung vermöge unserer
eigenen Geschichtlichkeit. Aber es gilt nicht diese Alternative, sondern nur, was den
Vorrang hat. Das Ausdrucksverstehen ist nicht zu verwerfen. Vielmehr ist dieses We-
senserblicken in den Erscheinungen als Ausdruck uns unerlässlich als Reiz, als Leitfa-
den, als Fragenquell. Die maximale Entwicklung des Organs der physiognomischen
Wahrnehmung ist für unsere historische Auffassung erwünscht. Jedoch ist über den
Ausdruck hinaus ständig die Sache selbst zu suchen. Das Ausdrucksverstehen ist zu
überwinden durch Teilnahme an den menschlichen Dingen. Es stellt sich wohl immer
wieder auf neuer Stufe her, doch diese Stufe ist allein durch jenes Eindringen zu erwer-
ben. Das fruchtbare Verstehen im Ganzen geht daher hin und her zwischen sachlicher

statt entstehen im Ms. und in der Abschrift Gertrud Jaspers entsteht
 
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