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Grundsätze des Philosophierens
Es erwachsen ungefähr gleichzeitig in drei bestimmten Gebieten der Erdoberfläche
die ältesten hohen Kulturen, erstens die heute wieder bekannte sumerisch-babyloni-
sche, ägyptische, ägäische Welt, zweitens die in ersten Ausgrabungen bekannt werdende
vorarische Induskultur des 3. Jahrtausends, drittens die alte, nur in Erinnerungen unbe-
stimmt durchscheinende, in spärlichen Resten greifbare archaische chinesische Welt.
Diese drei Bereiche - China, Indien, Abendland - sind von Anfang an einzig. In ih-
rem Umkreis allein vollziehen sich die Erschütterungen und Schöpfungen des letzten
Jahrtausends vor Christus: die Achsenzeit der Weltgeschichte, die Zeit von Homer bis
zu Archimedes, vom Jahwisten und dann von Elias bis zum Dichter des Hiob, von den
ältesten Upanishaden bis zu Buddha, von Laotse und Konfucius bis zu Tschuang tse.179
Die vorhergegangenen ältesten Hochkulturen hören nun auf. Sie bestehen nur fort,
soweit sie in die Achsenzeit eingehen, aufgenommen werden von dem neuen Anfang.
Es liegt ein merkwürdiger Schleier über den vorhergehenden ältesten Kulturen, als ob
der Mensch in ihnen noch nicht eigentlich wach geworden sei. Darüber können ein-
zelne ergreifende, aber wirkungslose Ansätze nicht täuschen (Gespräch eines Lebens-
müden180 in Ägypten, babylonische Busspsalmen,181 Gilgamesch182). Das Monumentale
in der Religion und deren Kunst, das Entsprechende in den umfassenden autoritativen
Staatsbildungen und Rechtsschöpfungen sind in der Erinnerung für das Bewusstsein der
Achsenzeit Gegenstände der Ehrfurcht und Bewunderung, ja des Vorbildes (so für Kon-
fucius, für Plato), aber derart, dass ihr Sinn in der Auffassung radikal verwandelt wird.
Damals erwuchs das Selbstbewusstsein des Menschen und geschah die Offenba-
rung des Seins. Es traten die bezwingenden geistigen Bilder auf in den Verwandlungen
der altüberkommenen Mythen und deren Steigerung zum Ausdruck tiefster Gehalte
im Übergang zu den folgenden unmythischen Zeitaltern. Die unendlichen Möglich-
keiten des Gedankens entwickelten sich im freien Kampf einer Welt, die nicht an eine
einzige Macht gebunden ist: in allen drei Bereichen gab es viele Staaten, viele Gewal-
ten, viele Kräfte. Jede erweckte und reizte die andere. Alles schien hell zu werden. Aber
die Erfahrungen trieben auch überall in das Bewusstsein des Äussersten.
Der Mensch erfuhr seine ganze Not und seinen höchsten Aufschwung. Ausgang
war die Einsicht in die Unvollendung und Unvollendbarkeit des Menschen; seine
Schranken und Tiefen wurden offenbar. Das Ziel war Erlösung, sei diese in doch wie-
der vollendbar gedachten Gestalten des Menschseins in der Welt versucht, sei sie in
einem übersinnlichen Process gewonnen, sei sie im tragischen Bewusstsein verwirk-
licht. Der Mensch wurde hellsichtig. Es erwuchs das rationale Denken, damit zusam-
menhängend die Discussion, in der einer dem anderen den Ball zuwirft und durch Ge-
nerationen hindurch ein fortschaffendes Wachsen und Vertiefen des Bewusstseins
stattfindet. Eine Fülle von Persönlichkeiten wurde sichtbar. Es entwickelte sich eine
Mannigfaltigkeit von Möglichkeiten, kein beherrschendes System. Zu jeder Position
gab es auch die Gegenposition. Es blieb im Ganzen alles offen. Das Unfeste ist ganz be-
Grundsätze des Philosophierens
Es erwachsen ungefähr gleichzeitig in drei bestimmten Gebieten der Erdoberfläche
die ältesten hohen Kulturen, erstens die heute wieder bekannte sumerisch-babyloni-
sche, ägyptische, ägäische Welt, zweitens die in ersten Ausgrabungen bekannt werdende
vorarische Induskultur des 3. Jahrtausends, drittens die alte, nur in Erinnerungen unbe-
stimmt durchscheinende, in spärlichen Resten greifbare archaische chinesische Welt.
Diese drei Bereiche - China, Indien, Abendland - sind von Anfang an einzig. In ih-
rem Umkreis allein vollziehen sich die Erschütterungen und Schöpfungen des letzten
Jahrtausends vor Christus: die Achsenzeit der Weltgeschichte, die Zeit von Homer bis
zu Archimedes, vom Jahwisten und dann von Elias bis zum Dichter des Hiob, von den
ältesten Upanishaden bis zu Buddha, von Laotse und Konfucius bis zu Tschuang tse.179
Die vorhergegangenen ältesten Hochkulturen hören nun auf. Sie bestehen nur fort,
soweit sie in die Achsenzeit eingehen, aufgenommen werden von dem neuen Anfang.
Es liegt ein merkwürdiger Schleier über den vorhergehenden ältesten Kulturen, als ob
der Mensch in ihnen noch nicht eigentlich wach geworden sei. Darüber können ein-
zelne ergreifende, aber wirkungslose Ansätze nicht täuschen (Gespräch eines Lebens-
müden180 in Ägypten, babylonische Busspsalmen,181 Gilgamesch182). Das Monumentale
in der Religion und deren Kunst, das Entsprechende in den umfassenden autoritativen
Staatsbildungen und Rechtsschöpfungen sind in der Erinnerung für das Bewusstsein der
Achsenzeit Gegenstände der Ehrfurcht und Bewunderung, ja des Vorbildes (so für Kon-
fucius, für Plato), aber derart, dass ihr Sinn in der Auffassung radikal verwandelt wird.
Damals erwuchs das Selbstbewusstsein des Menschen und geschah die Offenba-
rung des Seins. Es traten die bezwingenden geistigen Bilder auf in den Verwandlungen
der altüberkommenen Mythen und deren Steigerung zum Ausdruck tiefster Gehalte
im Übergang zu den folgenden unmythischen Zeitaltern. Die unendlichen Möglich-
keiten des Gedankens entwickelten sich im freien Kampf einer Welt, die nicht an eine
einzige Macht gebunden ist: in allen drei Bereichen gab es viele Staaten, viele Gewal-
ten, viele Kräfte. Jede erweckte und reizte die andere. Alles schien hell zu werden. Aber
die Erfahrungen trieben auch überall in das Bewusstsein des Äussersten.
Der Mensch erfuhr seine ganze Not und seinen höchsten Aufschwung. Ausgang
war die Einsicht in die Unvollendung und Unvollendbarkeit des Menschen; seine
Schranken und Tiefen wurden offenbar. Das Ziel war Erlösung, sei diese in doch wie-
der vollendbar gedachten Gestalten des Menschseins in der Welt versucht, sei sie in
einem übersinnlichen Process gewonnen, sei sie im tragischen Bewusstsein verwirk-
licht. Der Mensch wurde hellsichtig. Es erwuchs das rationale Denken, damit zusam-
menhängend die Discussion, in der einer dem anderen den Ball zuwirft und durch Ge-
nerationen hindurch ein fortschaffendes Wachsen und Vertiefen des Bewusstseins
stattfindet. Eine Fülle von Persönlichkeiten wurde sichtbar. Es entwickelte sich eine
Mannigfaltigkeit von Möglichkeiten, kein beherrschendes System. Zu jeder Position
gab es auch die Gegenposition. Es blieb im Ganzen alles offen. Das Unfeste ist ganz be-