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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0293
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Grundsätze des Philosophierens

Die Objektivierungen sind erstens die greifbaren Institutionen, zweitens die Gel-
tungen (Normen, Gesetze) gegenüber dem realen Geschehen, drittens ein zugrunde-
liegend Gedachtes als die eigentliche Realität.
1) Die Institutionen sind in allen objektiven Apparaten, in Verwaltung, Gericht,
Heeresorganisation, in der Verfassung für die Entstehung des einheitlichen Willens
und der Gesetzgebung, in Organisationen und Bürokratien3, in wirtschaftlichen Un-
ternehmungen da. Sie sind zu erforschen in dem, wie sie von den sie tragenden Men-
schen gemeint sind und wie sie faktisch funktionieren.
2) Bei der Analyse aller institutionell fasslichen Objektivierungen zeigt sich eine
Polarität zwischen Realität und Norm. Was als Geltung behauptet und ausgesagt wird,
entspricht nicht dem, was real wirksam gilt, das, was gesagt wird, nicht dem, was ge-
schieht, die geschriebene Verfassung nicht der realen Verfassung.
3) Auf die Frage nach der eigentlichen Realität - nach dem, was allem zugrunde-
liegt - wurde oft die Antwort gegeben: real sind nur die einzelnen Individuen, die in
ihrer Wechselwirkung die Gemeinschaft bilden und ihre Normen und Institutionen
hervorbringen. Dagegen stand die andere Antwort: es gibt die ursprüngliche Realität
des Ganzen, der Einzelne ist durch das Ganze, nicht umgekehrt.
In der ersten Antwort wird als Realität vorausgesetzt das Leibhaftige und das Zu-
sammengesetztsein aus Elementen. Als leibhaftiges Element scheint das menschliche
Individuum da zu sein. Aber was ist diese elementare Realität? Der Mensch als Leib?
Aber dann ist der Mensch als Mensch noch garnicht ergriffen. Was der Mensch als Ein-
zelner wirklich ist, das ist er gerade nicht als Einzelner. Die Vorstellung von Elemen-
ten und ihrer Wechselwirkung ist eine Kategorie, die in ihrer Anwendung jeweils kon-
kret daraufhin zu prüfen ist, was durch sie offenbar wird, und wo sie versagt. Die
Behauptung von der eigentlichen Realität der einzelnen leiblichen Individuen, von
der alles andere nur hervorgebracht werde, ist an sich dogmatisch und auf einen un-
kritischen und unbestimmten Realitätsbegriff gegründet. Der Versuch, die sociologi-
schen Realitäten aus der Wechselwirkung der Einzelnen zu verstehen, gerät bald in
leere Konstruktionen und in Endlosigkeiten. Dann beruft man sich etwa auf »höchst
verwickelte und in ihren Details garnicht zu entziffernde psychologische Massenpro-
cesse«,216 als ob in dem wegen Unübersehbarkeit Unerforschlichen die Realität läge.
Dagegen ist zu sagen: Das sogenannte Verwickelte kann, als etwas Einfaches, geradezu
Verständliches da sein; in jedem Realitätsbereich ist das hierhin Gehörende in seiner
Einfachheit unbefangen zu erfassen und nicht durch ein anderes, fremdes, als unüber-
sehbar dogmatisiertes zu umschreiben und zu ersetzen.
In der zweiten Antwort wird fälschlich ein Ganzes gegenständlich substantialisiert,
worüber alsbald unter dem Gegensatz von partikularer und totaler Auffassung einge-

statt Bürokratien im Ms. und in der Abschrift Gertrud Jaspers Bürokratien
 
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