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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0295
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292

Grundsätze des Philosophierens

Führung des Geschehens, den kommenden und gehenden Staatsbildungen überlegen,
ganz in den Vordergrund treten wie in der Kastenordnung Indiens und ihrer daseins-
formenden Wirklichkeit, die sich auch ohne Staatsgewalt mit überwältigendem
Zwange durchsetzt.
Der Gegensatz von Staat und Gesellschaft wurde erst in den letzten beiden Jahr-
hunderten aufgefasst zunächst aus der Leidenschaft des Ändernwollens der Zustände
durch Abschaffung dieser Polarität, dann als Kategorie einer wissenschaftlichen Be-
trachtung. Thomas Paine schrieb im 18. Jahrhundert: »Manche Schriftsteller haben
die Gesellschaft mit dem Staate verwechselt. Die Gesellschaft ist das Erzeugnis unse-
rer Bedürfnisse; der Staat, unserer Schlechtigkeit. Die Gesellschaft ist in jedem Falle ein
Segen, der Staat sogar im besten Falle ein notwendiges Übel.« (cit. nach Guttmann
S. 84).217 Der Traum war, eine erdachte herrschaftslose Gesellschaft zu befreien von
dem bösen Staat; man glaubte in der Anarchie das Glück zu finden. Lorenz von Stein
(Mitte des 19. Jahrhunderts) dagegen erforschte den Gang der Dinge als Auseinander-
setzung zwischen Staat und Gesellschaft: Die gesellschaftlichen Interessen bemächti-
gen sich des Staats. Der Staat verwandelt sich mit der Gesellschaft. Er ist das Allge-
meine, das verloren geht im Verfall an Interessen, zum Heile wird im Ausgleich der
Interessen. Princip des Staates muss sein die Anerkennung des gegenseitigen Bedingt-
seins der gesellschaftlichen Interessen und damit die Forderung eines beständigen ge-
genseitigen Opfers der Sonderinteressen.218 »Wenn Europa noch eine Zukunft hat, so
beruht sie einzig und allein auf der Fähigkeit seiner Völker, jenes Princip anzuerken-
nen; haben sie diese Fähigkeit nicht, so wird Europa mit all seiner Herrlichkeit jetzt in
der industriellen Gesellschaft seinen Höhepunkt erreicht haben, und unaufhaltsam
sich auflösend, in die Barbarei zurückfallen.«219 Dann wird Europa sich unfähig erwie-
sen haben, mehr als die Erfüllung der ersten Stadien der Entwicklung gesellschaftli-
cher Freiheit zu durchleben. »Ist aber jene Freiheit die wahre und allein dauernde, was
soll dies, sonst wohl herrliche und keinem andern vergleichbare Staaten- und Völker-
system weiter auf diesem Stern des Werdens?«220
Die Polarität von Staat und Gesellschaft ist nicht eindeutig. Sie ist sowohl in unse-
rer Auffassung wie in der Realität beweglich:
Der Gegensatz des Bewussten und Unbewussten deckt sich nicht mit dem von Staat
und Gesellschaft. In beiden ist beides. Staatlichkeit wird gesteigert durch die Einheit von
Machtwillen und Bewusstsein, während stossweise Gewalt und Nachgiebigkeit im Un-
bewussten bleibt. Staatlichkeit ist der Weg grenzenlos bewusster Ordnung und Lenkung.
Dagegen ist die Gesellschaft im Ganzen vorwiegend unbewusst. Ihre Ordnungen wer-
den erst bewusst, nachdem sie schon da sind. Bewusste Planung ist ein Faktor innerhalb
des umfassenden, immer unbewusst bleibenden gesellschaftlichen Geschehens.
Staat und Gesellschaft, wenn man sie unterscheidet (und nicht den Staat selber für
eine Weise der Gesellschaft neben anderen hält), sind aufeinander angewiesen. Das
 
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