Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0296
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Grundsätze des Philosophierens

293

eine kann nicht ohne das andere sein. Die Gesellschaft ist die Materie des Staates, der
Staat die umfassend vereinheitlichende Ordnung der Gesellschaft. Aber Ordnung ist
schon in der Gesellschaft. Keine gesellschaftliche Realität ist ohne irgendeine Ord-
nung. Und der Staat selber enthält ein Ungeordnetes, woraus Ordnung erst entsteht,
den Machtwillen, die Gewalt. Der Staat wird erst Staat durch Selbstbändigung seines
Ursprungs.
Die Grenze zwischen Staat und Gesellschaft ist verschieblich. Wird die eine Seite
zuungunsten der anderen allmächtig, so erfolgt ein Umschlag. Eine die Gesellschaft
völlig in ihr Mittel verwandelnde Staatlichkeit zerbricht, wenn eines Tages die Maschi-
nerie infolge von Gewalt - Krieg oder Revolution - still steht, in Anarchie zugunsten
der Ordnungen[,] die allein aus der Gesellschaft von unten kommen. Eine die Staat-
lichkeit überwältigende Gesellschaft löst sich in Anarchie auf, welche neue despoti-
sche Staatsgewalt erweckt.
Der ganze Gegensatz von Staat und Gesellschaft ist eine Auffassungsweise, die,
wenn sie auch eine Fülle von Tatsachen bestimmen und begreifen lässt, doch nicht die
Absolutheit zweier Realitäten bedeutet.
Die Auffassung gemeinschaftlichen Lebens in der Polarität von Staat und Gesell-
schaft bedeutet erstens: kein Zustand ist für immer; denn die Gesellschaft ändert sich
mit der Arbeit, ihrer Technik und mit der durch die Technik notwendigen Ordnung.
Zweitens: Herrschaft ist notwendig, denn ohne sie ist die entstehende Anarchie nicht
paradiesisches Glück einer reinen Gesellschaft, sondern Chaos, in dem alle eine Beute
gewalttätiger Minderheiten werden. Drittens: die Herrschaft ist der Staat und dieser ist
zum Heile aller in der Gesellschaft nur, wenn er als er selber, durch alle, aus allen, für
alle sich verwirklicht, nicht wenn er zum Werkzeug einiger, einer Klasse, eines Stan-
des, der besonderen gesellschaftlichen Interessen im Kampfe gegen andere Interessen
wird. Viertens: es kann keine Staatslehre als die Lehre von der richtigen Herrschafts-
ordnung überhaupt geben (äusser in abstrakten Erörterungen über Formen des Rechts),
sondern nur die concreten Staatslehren für die herrschaftliche Ordnung bestimmter
geschichtlicher Gesellschaftszustände.
ee. Grundcharaktere der Staatsrealität: Man hat als wesentliche Grundcharaktere
des Staates bezeichnet das geschlossene Gebiet und das nach Abstammung, Kultur und
Sprache zusammengehörende Volk. Man hat die Herkunft des Staates aus dem Staate
vorhergehenden Realitäten, aus dem Familienverband (Patriarchat), aus dem Eigen-
tum (patrimonium), aus dem Vertrag, weiter aus dem Recht oder aus der Gewalt be-
hauptet, hat den Zweck des Staates in der Sicherheit der Person und des Eigentums, in
seiner Nützlichkeit für Daseinsnotwendigkeiten, für Wirtschaft und Kultur, in der Ehre
der Macht, in der Erziehung eigentlichen Menschseins gesehen. Dieses alles und noch
viel anderes kann mit dem Staat Zusammenhängen, vielleicht alles gelegentlich auch
fehlen äusser einem: der Macht.221
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften