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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0300
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Grundsätze des Philosophierens

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liehen Gemeinschaften sind gegenüber allem organischen Leben (dem Leibe, den Tier-
staaten und Lebensgesellschaften, dem umgreifenden Strom des Lebens) etwas grund-
sätzlich Neues. Dieses Neue ist mehr als ein organischer Leib, als ein faktisches
organisches Zusammengehören durch Aufeinanderangewiesensein von Dasein auf Da-
sein, mehr als in Wechselwirkung befindliche individuelle Atome. Es ist die Frage, was
dieses Mehr sei.
Es ist die Gemeinschaft nicht blosser Lebewesen, sondern von Menschen, damit
das bewusste Ergreifen von Sinn, das Hinausgreifen über die Geschlossenheiten des
sich wiederholenden organischen Lebens zu einem geistig und seelisch innerlichen,
einmaligen, sich geschichtlich aufbauenden, unwiederholbaren Geschehen3. Dieses
Geschehen liegt über dem Strom des organischen Vererbens, gewinnt keine Sicherung
im Boden des organischen Leibes, reisst ab, wenn die Überlieferung aussetzt. Der
Mensch ist Mensch nur in der Geschichte, das heisst - auf der organischen Grundlage
der Vererbung - wesentlich durch Überlieferung. Dieses Geschehen erwächst in allen
Weisen der Communication zwischen Menschen: dem verstehenden Aufbauen geisti-
ger Gebilde, dem Selbstwerden mit dem anderen Selbstwerden, dem Freiwerden mit
dem Freiwerden der anderen, diesem unendlichen Process des Miteinander. So entfal-
ten sich im Medium des Bewusstseins überhaupt die geistigen Ideen aus dem existen-
tiellen Ursprung der Einzelnen. Aber die Einzelnen sind aus sich allein nichts, sie ver-
fallen in ihrer Isolierung, sie bleiben geschichtlich im Schlaf, wo sie aus dem Strom der
Überlieferung herausgenommen werden. Es ist kein greifbarer Punkt dieser Realität
der Menschheit, weder in den Einzelnen, noch in der Gemeinschaft. Die Realität liegt
in dem Geschehen, durch das sowohl die Gemeinschaft wie das Selbstsein der Einzel-
nen erst werden.
Dieses Ganze der Realität geschichtlicher Gemeinschaft ist auf keine Weise als Ge-
genstand zu bestimmen, nicht als etwas Endgültiges zu erfassen. Es ist ein allseitig Un-
geschlossenes des geistigen Lebens, das in Zusammenhängen erscheint, die aus dem
Umgreifenden entgegenkommen.
Die Geschichte der Jahrtausende kann, gemessen an den Ordnungen organischen
Lebens, wie ein zufälliges Nacheinander und Durcheinander erscheinen, als ein Sich-
kräuseln an der Oberfläche der Wellen eines winzigen Teils des organischen Lebens, Qual
und Glück des Menschen, aber verschwindend gegenüber der beherrschenden Realität
des organischen Lebens, obgleich diese vorübergehende Menschenwelt in das Gesicht
der Erdoberfläche mächtiger eingreift als jedes vorhergehende Leben es getan hat.
Aber in der menschlichen13 Geschichte liegt mehr vor als das zufällige Chaos, das
aufgewühlt ist im Wirbel des Geschehens, als ob ein böser Dämon auf der Erde alles um-

a statt Geschehen im Ms. und in der Abschrift Gertrud Jaspers Geschehens
b menschlichen nach der Abschrift Gertrud Jaspers statt Menschlichen im Ms.
 
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