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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0305
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302

Grundsätze des Philosophierens

Im ersten Fall handelt es sich um analytische Forschung, im zweiten Fall um die
Vergewisserung eines Glaubens im Bilde des Ganzen.
1. Die analytische Forschung. - Erkenntnis fasst die Realitäten in ihrer Bestimmtheit
auf, so auch die Realitäten der Gemeinschaft. Die vielen Realitäten bleiben aber auch
für die Erkenntnis nicht beziehungslos nebeneinander stehen. Das Wesen der wissen-
schaftlichen Methode ist vielmehr gerade, alles mit allem in Beziehung zu setzen, um
den Allzusammenhang zu finden, in dem das Besondere seinen Ort hat. Jedoch be-
stimmt und gewiss bleibt das Besondere, das Ganze bleibt in der Forschung Idee.
Den systematischen Zusammenhang des Besonderen zu ergreifen, dient angesichts
der vielen Realitäten die Frage nach der eigentlichen Realität, und, falls diese Frage keine
Antwort findet, die Frage nach der Ordnung der Weisen der Realität in einer Hierarchie
von Stufen oder einer Gliederung in Dimensionen, in einer Struktur des Seienden.
Alle so zu gewinnenden Totalanschauungen haben innerhalb der analytischen For-
schung den Wert von vorläufigen Versuchen, die sich gegenseitig ergänzen, miteinander
aufbauen. Sie bleiben als Vergegenständlichung immer im Umgreifenden; das Umgrei-
fende selber wird nie erreicht. Werden sie als Seinserkenntnis genommen, statt als Weg
zum Ergreifen jeweils bestimmter Erkenntnisse im Besonderen, so werden sie das Faul-
bett der Forschung. Sie täuschen, als ob man mit einem Schlage das Ganze haben könnte.
2. Bilder als Glaubensinhalte. - Schemata von Ideen, für die Forschung nur ideal-
typische Konstruktionen als Mittel zu bestimmter partikularer Erkenntnis in ihrem
Zusammenhang, werden als Bilder zu Totalanschauungen, in denen das Sein selbst er-
griffen sein soll. Der Vergleich mit den Organismen und mit der Freiheit wird zur Iden-
tität. Das Volk, der Volksgeist, der Staat, die Gesellschaft werden zu Entitäten.
Diese Verwandlung von Ideen in Substanzen nennt man Hypostasierung. Es wird
zu einem gleichsam Leibhaftigen, was doch in der Tat nur gedacht werden kann, zu
einem Ding an sich, was in den Perspektiven des Denkens als ein relativ Ganzes ge-
meint wurde, zu einem Wesen, was in der Erscheinung fliessend ist. Für die Erkennt-
nis bringt das keinen Gewinn. Die in der Führung der Erkenntnis lebendigen Ideen
sind preisgegeben zugunsten eines Scheinwissens, die vorantreibende Diskussion ist
abgeschnitten zugunsten dogmatischer Thesen, die sich nur wiederholen.
Solche Objektivierungen sind aber von grösster Wirksamkeit, zwar nicht als Er-
kenntnisgegenstände, sondern als Glaubensinhalte. Sie sprechen unmittelbar das Ge-
fühl an, bewegen die Leidenschaft des Kampfes, erwecken die Opferbereitschaft. Was
darin wahr und falsch ist, ist nicht leicht zu unterscheiden.
Wahr ist die Überzeugung in Ideen, der Glaube an das in der Relativität der Erschei-
nung sprechende Sein, das Bewusstsein der Aufgabe, die grenzenlosen Einsatz fordert,
das Anerkennen von Norm und Gesetz. Hier überall ist ein Unbedingtes gegenwärtig,
das, wenn es sich versteht, immer zuletzt auf die Transcendenz als Ursprung kommt.
Falsch wird aber all dies, wo es seinen Inhalt zu einem gewussten Gegenstände, zu ei-
 
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