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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0330
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Grundsätze des Philosophierens

327
1. Weltstaat und Weltkirche: Wir möchten zeigen, inwiefern der Weltstaat eine
wahre Idee ist, die Weltkirche aber ein gewaltsamer, das Menschsein zerstörender Un-
gedanke.
Weltordnung als reine Daseinsordnung ist bisher nie verwirklicht worden. Immer
kamen Motive aus anderem Umgreifenden dazwischen. Die Weltreiche der Vergan-
genheit waren zugleich religiöse Einheiten. Der Weltherrscher war Gott auf Erden oder
Gottes Sohn, die Ordnungen waren religiös geweiht, Verstoss gegen sie war zugleich
religiöse Verfehlung. Statt des Gottkaisers gab es später noch Könige »von Gottes Gna-
den« [,] galt der Bund von Thron und Altar. In Zeiten des Unheils ging die Sehnsucht
auf einen Weltheiland, der Ordnung und Frieden stiften sollte.
Wer den Daseinssinn und damit die Weltlichkeit der Weltordnung begriffen hat, muss
diesen Weg verwerfen. Die Religion verschleiert die Klarheit der innerweltlichen Aufgabe
der Daseinsordnung. Allzuleicht wird das Bestehende, Mangelhafte, Unheil in sich Ber-
gende religiös geheiligt. Dass der jeweilige Herrscher ein Mensch ist wie andere, mit sei-
ner Endlichkeit und den Gefahren des Bösen und des Irrtums, wird vergessen. Er wird
fälschlich hinausgehoben über das Wesen aller anderen, ihm werden Rechte gegeben,
die ihn jeder Kontrolle und Korrektur entziehen. Er gibt Gesetze, aber er ist den Gesetzen
nicht unterworfen (princeps legibus solutus est, Ulpian).236 Der religiöse Grund gab den
Herrschern einen unberechtigten und verhängnisvollen Spielraum ihrer Willkür.
In Wahrheit kann der Staat weder auf Religion gegründet werden, noch selber Reli-
gion sein. Aber er kann nur gut werden, wenn religiöse Menschen ihn bauen und verwal-
ten. Solange der Staat selber als religiös galt, kam der unbedingte Einsatz für ihn unmit-
telbar aus der Religion und brachte die Menschen in dieser Verwirrung zu zerstörenden
und sinnwidrigen Handlungen im Dasein wie Kreuzzügen, Religionskriegen, zu Verzicht
auf Vernunft und auf die eigentlich daseinsangemessenen, aufbauenden und verbessern-
den Unternehmungen. Wurde dann der religiöse Grund fraglich - mit Recht, denn er war
unwahr -, so entstand entweder der cynische Realismus unbeschränkter Machtpolitik,
das Recht der Starken, wie es unübertrefflich von Kallikles, Trasymachos und anderen Ge-
stalten in platonischen Dialogen237 und von Macchiavelli238 vertreten wird, - oder es ent-
stand eine neue, nun für die Ordnung des Daseins notwendige Unbedingtheit: in herber
Nüchternheit hängen die Menschen eines freien Staatsvolkes bis zum Einsatz ihres Le-
bens an dem weltlichen Grund ihres gemeinschaftlichen Daseins unter der Idee von Frei-
heit und Gerechtigkeit, nämlich an Recht, Gesetz und Verfassung. Die Saecularisierung
des Staatslebens bedeutet an sich keineswegs Relativierung bis zum Nihilismus des rei-
nen Machtgedankens. Aber ohne religiösen Grund der Einzelnen bleibt nicht der Ernst
im Weltlichen. Die Bescheidung im Weltlichen setzt für die Existenz die Beheimatung in
der Transcendenz voraus.
Woher aber erwächst die Religion und wozu gestaltet sich die Ordnung im religi-
ösen Leben? Sie bedarf der Überlieferung, der Bindung in Gemeinschaft, der unabläs-
 
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