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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0335
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Grundsätze des Philosophierens

Erfüllung seines Lebens gibt. Dazwischen liegen die in Frage stellenden und an der Bes-
serung des Staates arbeitenden Haltungen. Man kann sagen: Mensch und Staat sind in
der Idee eins, nur bei schlechtem Staat sind sie getrennt. Weil aber der Mensch noch ei-
nen anderen Ursprung hat als sein Dasein, kann er sich dann im Bewusstsein vom Staat
lösen.
Jedoch der Staat ist immer schlecht, weil der Mensch immer auch schlecht ist. Das
Böse des Menschen kommt im Staat zur sichtbaren Erscheinung, wird hier als das all-
gemeine Interesse geheiligt, sodass der Mensch als Staat tut, was er als Einzelner nur
sehr selten tun würde. Weil aber der Staat schlecht ist, ist die Aufgabe des Menschen,
an ihm zu arbeiten, wie er, als jeder Einzelne, an sich selber arbeiten muss. Er stellt sich
dem Staat gegenüber, dem er zugleich auf Gedeih und Verderb verbunden ist.
Die Arbeit am Staate kann der Einzelne nicht vollziehen wie eine Gestaltung an ei-
nem fremden Material. Er muss in Gemeinschaft tun und aufbauen, was nur da ist, wenn
alle aus ihrer Freiheit mitwirken. Bei einseitiger Zwangsgewalt nimmt die Mehrzahl der
Menschen am Staate keinen Anteil, sondern erleidet ihn nur. Die Arbeit am Staat ist auch
nicht ein gemeinsamer Plan, der das Ganze umfasst und nun gemeinsam verwirklicht
wird, sondern sie ist das Ringen von Gegnern, die im Kampf verbunden und in aller Hef-
tigkeit des Kämpfens darin solidarisch bleiben. Jede einseitige aufgezwungene Gestal-
tung ist brüchig. Gut wird der Mensch im Staat nur, wenn alle gut werden, frei nur, wenn
alle frei werden. Das Ringen der staatlichen Menschen miteinander um die politischen
Handlungen zur Herbeiführung der rechten Zustände ist ein Kreisprocess, in dem der
Zustand des echten Miteinanderringenkönnens sowohl Voraussetzung wie Ziel ist. In
der Geschichte gibt es wenige hohe Beispiele, in denen dies ungewöhnlich gelungen ist -
immer noch unter Verirrungen und begleitenden Corruptionen, daher nie als Vorbild
zur Nachahmung, sondern nur als Anlass der Ermunterung zum Möglichen gütig. Wie
nur an einzelnen Orten der Weltgeschichte höchste Kunst oder Dichtung oder Philoso-
phie erwachsen ist und dann für andere Zeitalter Quelle des Aufschwungs sein kann, so
an anderen Orten die hohe politische Wirklichkeit - die sich deswegen noch keineswegs
zureichend im Ganzen bewusst, nicht wissenschaftlich erkannt und philosophisch
durchhellt zu sein braucht. Ein solches Beispiel ist das republikanische Rom bis zur Grac-
chenzeit, ist das England vom 17. bis 19. Jahrhundert. Dieses Beispiel zeigt zugleich, wie
jedes hohe Gelingen, auf den Menschen im Ganzen gesehen, ein Opfer ist. Die Staat-
lichkeit der Engländer verzehrte die menschliche Substanz, die in Shakespeare ihre über-
wältigende Erscheinung gefunden hatte, zugunsten dieser einen politischen Leistung,
in die alles, auch die Religion hineingerissen wurde. Nie wieder konnte das Religiöse
wahrhaft frei und unbedingt werden (so oft auch in Worten und einzelnen Taten der
Anspruch erhoben wurde), nachdem die Religion durch den Staatsentschluss begrün-
det war in der staatlich motivierten, nicht ursprünglich und zuerst aus dem religiösen
Gewissen begründeten Losreissung von der katholischen Kirche. Die ausserordentliche
 
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