Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0347
License: Free access  - all rights reserved

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
344

Grundsätze des Philosophierens

Aber die Verfassung wandelt sich, unmerklich durch Veränderung der gesellschaft-
lichen Verhältnisse, bewusst durch Politik. Den Wandlungen der Dinge folgt oder geht
vorher ein bewusster Eingriff in die Verfassung. Die Verfassung ist nicht der absolute
Boden, sondern ist selber hineingerissen in den Strom des Geschehens.
Die Politik, welche die Verfassung ändern kann, ist selber von der Verfassung be-
dingt, in der sie jeweils stattfindet.
Alle besonderen Ordnungen sind gebunden durch die Verfassung und die politi-
schen Entscheidungen. Aber ihrerseits schaffen sie Realitäten, die wieder auf jene zu-
rückwirken.
Das Ganze der durch Veranstaltung zu lenkenden Ordnungen ist Bedingung alles
menschlichen Daseins und Tuns. Es ermöglicht unser Dasein und hält es zugleich in
jeweiligen Beschränkungen, die unüberschreitbar sind. Es wirkt hinein in das verbor-
genste Gemach und in die inneren Bewegungen der Seele. Es lässt nichts von sich frei,
was Dasein hat oder werden will.
2. Das Gesetz der Gesetzlichkeit: Unter allen Einrichtungen der Gemeinschaft ist
eine von alles überragender Wichtigkeit, wenn die Idee der Ordnung durch Verstän-
digung giltig ist. Dann sollen Einrichtungen und Gesetze nicht einseitig von einem
Herrn gegeben und erzwungen [,] sondern durch Teilnahme und Mitwirkung aller ge-
wollt und anerkannt sein.
Die Freiheit des Menschen fordert nicht nur, dass die Gesetze gelten, d.h. verläss-
lich angewendet werden, nicht nur, dass sie jedermann bekannt sind (oder im Bedarfs-
fälle von ihm in Erfahrung gebracht werden können), sondern dass sie durch Zustim-
mung der Gemeinschaft zustande kommen. Der Rechtsstaat als Idee der Freiheit ist ein
solcher, in dem die Gesetze nicht nur in allen Entscheidungen der Gerichte und der
Verwaltung zuverlässig befolgt werden, in dem nicht nur Konfliktsfälle zwischen dem
Staat und seinen Gliedern durch unabhängiges gerichtliches Verfahren entschieden
werden, sondern in dem Gesetze selber nur auf gesetzlichem Wege zustande kommen,
abgeändert, äusser Kraft gesetzt werden.
Der Missbrauch der Gesetze in äusserlicher Anwendung nunmehr vergewaltigen-
der, Unrecht bewirkender Formen kann nur durch neue Gesetze, nicht durch Willkür
einzelner nach Gutdünken behoben werden. Die Gesetze sind, wie Plato sagt, dumm,
denn sie sagen nur immer dasselbe, können sich nicht neuen Situationen anpassen.249
Aber diese Dummheit ist der Rechtssicherheit wegen in Kauf zu nehmen, um in ihren
Wirkungen jeweils durch verbesserte Gesetze wieder ausgeschaltet zu werden.250
Es ist ein Enthusiasmus für die Gesetzlichkeit notwendig, damit Freiheit bleibt. In
diesem Enthusiasmus ist beides verbunden: das Festhalten an gegebenen Gesetzen und
die Forderung der Änderung oder Neuschaffung von Gesetzen auf Wegen, die wie-
derum gesetzlich, durch die Verfassung des Ganzen gebunden sind.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften