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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0361
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Grundsätze des Philosophierens

Wir werfen im Schema einena Blick auf die geläufigen Totalanschauungen.
Es heisst entweder: der Mensch ist von Natur nichts Bestimmtes, sondern die Mög-
lichkeit zu allem; was er wird, liegt an den Daseinssituationen, durch die er lebt; er
wird, was er wird, nur von aussen; so wird er gut oder böse. Oder es heisst umgekehrt:
was der Mensch ist, ist er durch seine ihm stets angeborene Naturanlage.
Der Mensch als geprägt durch Daseinssituationen: Im Dasein als solchem liegen
Unumgänglichkeiten. Der Mensch muss, da er bedürftig ist, arbeiten, um in der Natur
sein Dasein zu erhalten. Er muss, da er in vielen Individuen da ist, sich mit anderen in
Beziehung setzen. Da es möglich ist, dass einer auch zugunsten der Bedürfnisse des an-
deren arbeitet, besteht die Tendenz, sich diesen Vorteil durch Vergewaltigung des an-
deren zu verschaffen. Da es möglich ist, Güter und Besitz anzusammeln und von ih-
nen zu leben, besteht die Tendenz zur Gewinnung von Vermögen. Der Mensch wird
im Dasein frei durch einen Umfang seines Besitzes, der ihm Musse schafft. So wird aus
der zunächst gemeinsamen Daseinssituation eine Verschiedenheit durch Eigentum.
Da jedes Dasein sich selbst behaupten muss und zwar gegen anderes Dasein - denn
ohne Selbstbehauptung würde es untergehen, die sich fortpflanzende und sich erhal-
tende Artung muss einen starken Selbstbehauptungswillen haben -, so entsteht not-
wendig ein Ringen egoistisch centrierter Individuen. Ihre jeweiligen Daseinsinteres-
sen beanspruchen den Vorrang.
Wird das Wesen der Menschen durch die Daseinssituation überhaupt geprägt, so ist
es bei allen Menschen gleich. Soweit aber dieses Wesen geprägt wird durch die Verschie-
denheit der Lage, wird es geprägt durch die Interessen. Denn je nach der verschiedenen
Situation in der Gesellschaft gibt es verschiedene Interessen, nicht nur der besonderen
Aufgabe der Arbeitsberufe um ihren Raum, ihren Erwerb, ihre Geltung, sondern der all-
gemeinen durchgreifenden Unterschiede der Reichen und Armen (der Besitzenden und
Nichtbesitzenden), der vererblichen Vorteile und Nachteile der gesellschaftlichen Lage,
der Gebildeten und Ungebildeten, der Herrschenden und der Beherrschten. Man
konnte zwar Pläne entwerfen, durch Abschaffung von Eigentum und Familie, durch
einheitlichen Unterricht aller solche Verschiedenheiten aus der Welt zu schaffen und
die Gleichheit aller zu erreichen. Sie mussten scheitern, weil sich die Unterschiede in
verwandelter Gestalt sogleich wieder herstellen. Denn in der Durchführung irgendei-
ner Ordnung scheiden sich sogleich wieder Herrschende und Beherrschte, stellen sich
die Interessen von Besitz und Familie wieder her (weil das universelle Wesen des Men-
schen seine Befreiung durch persönliche Verfügung über einen Daseinsraum und seine
Erfüllung in der Nähe der Familiengemeinschaft der sich folgenden Generationen fin-
det). Weil nun die Interessen verschiedene sind und sie in ihrer Verwirklichung einan-
der den Raum im Dasein einengen, stehen sie miteinander im Kampf (in Gestalt von

einen nach der Abschrift Gertrud Jaspers statt ein im Ms.
 
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