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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0367
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364

Grundsätze des Philosophierens

3. Die Einschränkung durch Situationen: Alles, was sich geschichtlich verwirklicht,
steht unter den Bedingungen der natürlich [^geographischen, der anderen realen, der
geistigen Constellationen, der politischen Lage, des Sichtreffens von Möglichkeiten.
Was sich verwirklicht, ist gebunden an Gelegenheiten. Einmalige Situationen bleiben
ergebnislos, wenn der Mensch oder die Menschen fehlen, welche sie ergreifen könn-
ten. Menschen bleiben blosse Möglichkeiten, wenn ihnen die Situationen ausbleiben.
Versäumte Gelegenheiten und nie zum Zug kommende Menschen zeigen die Grenze,
die darin liegt, dass beide sich treffen müssen.
Im Grossen steht die Menschheitsgeschichte in Situationen, d.h. in je einmaligen
Realitäten, durch die der Fortgang der Geschichte bestimmt wird.
Zum Beispiel ist es heute eine unaufhaltsame Gegebenheit, dass über den Erdball
die Technokratie sich ausbreitet. Nachdem alle nichteuropäischen Völker durch Besitz-
ergreifung der von den Europäern erfundenen technischen Mittel an Macht durch
mögliche Gewaltanwendung gewachsen sind oder wachsen werden, schafft am Ende
diese Gewalt die Daseinsbasis für das weitere Geschehen auf dem Erdball. Denn was
dann geschehen wird, entscheidet zwar nicht allein, aber zunächst wesentlich der dann
siegende Menschentypus. Die Hunderte von Millionen ina Asien werden als Besitzer
der modernen Technik zu Kriegswerkzeugen ersten Ranges. Wie können die wenigen
hundert13 Millionen Abendländer (Europäer und Amerikaner) sich mit vielen hundert
Millionen anderer Menschen verständigen? Es ist die Frage, ob es Streitpunkte gibt, wor-
über bei Differenz eine Verständigung garnicht möglich ist, sondern unumgänglich die
Schicksalsentscheidung, also der Krieg, angerufen werden muss. Im Gang der Dinge
muss alle Vernunft an die Grenzen stossen, wo etwas in der Gesamtsituation Gegebe-
nes für jetzt diesen Weg erzwingt; dann entscheidet das Irrationale von Gewaltakten,
auf deren Ergebnis wieder rational und planend weiter gebaut wird.
Ein anderes Beispiel ist die bis heute immer wiederkehrende Grundsituation, dass
nur Minderheiten als Einzelne im Miteinanderkämpfen sich verstanden und gemein-
schaftlich eine sinnvolle Politik in Kontinuität verwirklichten. Alle faktisch aufbau-
ende Herrschaft war solche von Aristokratien oder Eliten. Es ist eine leere Abstraktion
eines an sich Richtigen, ohne Blick auf die Realität der Massen diese sogleich die Mas-
sen regieren lassen zu wollen. Das Ergebnis ist nicht Demokratie der Massen, sondern
Despotie der Demagogen. Massen müssen erst gegliedert werden, in ein geformtes Le-
ben kommen, Verantwortlichkeit im Gang ihrer Erziehung gewinnen. Nur in langsa-
mer Ausbreitung kann die Teilnahme an Wissen, Ideen, Selbsterziehung und Kommu-
nikation weitere Kreise gewinnen. Alle Politik stösst an die Grenze dieser Situation, die

a nach in im Ms. gestr. Russland und
t> die wenigen hundert im Ms. hs. Vdg. für 400
c vielen hundert im Ms. hs. Vdg. für 1600
 
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