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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0368
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Grundsätze des Philosophierens

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sie im Endziel aufheben möchte. Diese Situation erzwingt wegen der Grenze der Ver-
ständigung durch Beschränkung auf eine Minderheit oder auf bestimmte einzelne In-
halte das Handeln unter Verzicht auf Verständigung. Denn es ist ja Handeln unter der
Voraussetzung des jeweiligen Verstehens und Wissens und Denkens der Massen.
4. Unaufhebbare Antinomien: Bewusstsein und Unbewusstes, Gewalt und Verstän-
digung, Bewegung und Verfestigung sind Beispiele von Polaritäten, in denen unser Le-
ben sich vollzieht. Die Polaritäten werden Antinomien, wenn die Pole in Gegensatz
zueinander treten und sich bekämpfen. Pole steigern ein Ganzes, Antinomien bringen
Störung und Vernichtung.
Beispiele für Pole: Jede Communication steht im Pol zu Einrichtungen. Schon im
Verkehr von Mensch zu Mensch muss man, soll etwas gelingen, Formen festsetzen, Si-
tuation und Stunde berücksichtigen, planmässig behandeln, ja berechnen. Es gibt
keine absolut freie Communication als auf die Dauer rein durchführbare Wirklichkeit.
So ist im Staats- und Gesellschaftsleben alle Verständigung nur auf der jeweils breiten
Grundlage bisher erworbener Einrichtungen, Formen, Gesetze möglich. - Das erhel-
lende Bewusstsein, das frei macht, erwirkt das lebendig Schöpferische doch nur, in-
dem es neues Unbewusstes ermöglicht und wirksam werden lässt.
Die Unaufhebbarkeit der Polaritäten lässt keine Ruhe in einer Endgiltigkeit entste-
hen, äusser durch Tilgung der Zeit in mystischen Erfahrungen, und äusser im Tode. Es
bleibt Bewegung, und in der Bewegung die Möglichkeit von Aufstieg und VerfalL In
den Polaritäten wirkt der eine Pol für den anderen als Stachel. Es ist die Lebendigkeit
selber, welche die Widersprüche in sich schliesst, die der Grund unaufhaltsamen Vor-
anschreitens sind.
Beispiele für Antinomien: Die Pole werden zu Antinomien, wenn statt [d]es frucht-
bar steigernden Gleichgewichts der vernichtend herabdrückende Kampf tritt. Die Ein-
richtungen ersticken die lebendige Communication, das Unbewusste überwuchert das
Bewusste, Verständigung erliegt der Gewalt.
Wie die Verständigung in die Antinomie zur Gewalt gerät, zeigen schon die klei-
nen Alltagssituationen. In ihnen ist verborgen wirksam ein Moment der Macht - des
Machthabens und Machterleidens, des Machtanspruchs und des Sichwehrens dage-
gen; und dies wird eine Quelle fortdauernder Ungerechtigkeit.
Die Idee will Verständigung der Menschen in Redlichkeit. Voraussetzung dafür ist
Gegenseitigkeit, wie im persönlichen Verkehr zwischen Einzelnen, so zwischen Grup-
pen, Interessen, Organisationen. Aber die Gegenseitigkeit wird nicht von allen und
nicht einmal von vielen zuverlässig bewahrt. Da die Grundhaltung des Interesses auf
Ausbeutung der anderen geht, bleibt unter der Decke von Gegenseitigkeit (unter Ge-
setzen und Conventionen) ein Kampf durch List. Dieser Einschränkung der Gegensei-
tigkeit antwortet das Misstrauen. Es handelt sich nicht nur um groben Betrug, sondern
 
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