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Grundsätze des Philosophierens
Jahrtausende des Abendlandes seit dem Altertum. In dieser Propaganda gibt es die
ständigen Attacken, die Polemik und Apologetik, die selber wieder Polemik ist.
Der Sinn der Polemik ist nun aber heterogen, je nach dem[,] ob es sich um wissen-
schaftliche Erkenntnisse handelt (wobei die Diskussion durch verborgene Glaubens-
propaganda nur getrübt wird, denn der Sinn der Sache fordert Diskutierbarkeit zwi-
schen Menschen verschiedensten Glaubens), oder ob um unmittelbar bestimmte
Zwecke mit ihren Forderungen an gegenwärtiges Handeln (wobei Glaubenspropa-
ganda auf die Grundsätze dieses Handelns geht), oder ob um philosophisches Denken.
Nur vom letzteren3 ist hier die Rede. Da gilt:
Philosophieren, so lange es echt bleibt und wahrhaftig, will für sich keine Propa-
ganda, kein Aufzwingen, kein Überreden, es hat keinen Willen zur universalen Herr-
schaft. Nur eines will es: Gehört werden und geprüft werden durch diejenigen, die
durch ihr eigenes Leben und durch die Voraussetzung geistiger Entwicklung und Reife
zu solchem Denken fähig sind. Wo Glaubenspropaganda ist, da ist keine Philosophie.
2. Regeln für Diskussion: Man hat im Mittelalter Regeln für Diskussion entworfen.
Diese waren sinnvoll für die logisch-syllogistische Struktur der Gedankenfolge im Ge-
spräch. Sie sind rein objektiv, sachlich.283
Diese Regeln genügen nicht. Sie beschränken sich auf ein Gebiet des Logischen; wo
dieses nicht gilt, gelten auch jene Regeln nicht mehr.284 Für die eigentliche Diskussion,
bei der das Sachliche nur Medium ist der Communication der Idee und der Existenz,
gelten andere Regeln, die man abstrakt aussprechen kann, ohne dass sie wie Recepte
anwendbar wären:285
Man muss hören können, muss der Lust am Reden und am Überreden widerstehen.
Es kommt darauf an, die wesentlichen Fragen an den Anderen zu finden, d.h. die, wel-
che seine eigentliche Position an den Tag bringen. Schlecht diskutiert, wer den Ande-
ren nicht dazu bringt, dass er aus seiner Tiefe offenbart, was sachlich in ihm liegt.
Dazu ist notwendig, sich dem Andern entgegen zu bewegen, sich al pari zu verhalten,
keine Überlegenheit und keine vornehm distancierende Zurückhaltung eigenen besse-
ren Wissens fühlbar werden zu lassen, es sei denn in der Absicht des Communications-
abbruchs.286 Man muss in der Welt des Anderen sich bewegen, in unabsichtlicher Maske
der Denkungsart des Anderen sich anbequemen. Man muss in ihr einige Schritte mitge-
hen, ja in deren Tonart mitschwingen, muss jeweils in der Sphäre reden, die der Andere
noch nicht verlassen kann, muss es tun, auch wenn sie der eigenen fremd ist. Dies alles
kann geschehen, ohne unwahrhaftig zu werden. Dabei muss man die Gefahr in Kauf neh-
men, selber unter dem eigenen Niveau zu sprechen, dem Anderen13 Avancen zu machen.
Grundfehler ist immer der Drang zur Überlegenheit, das Rechthabenwollen, der Stolz.
a statt letzteren im Ms. und in der Abschrift Gertrud Jaspers letzterem
b nach Anderen im Aufsatz-Ts. 1946 hs. Einf. falsche
Grundsätze des Philosophierens
Jahrtausende des Abendlandes seit dem Altertum. In dieser Propaganda gibt es die
ständigen Attacken, die Polemik und Apologetik, die selber wieder Polemik ist.
Der Sinn der Polemik ist nun aber heterogen, je nach dem[,] ob es sich um wissen-
schaftliche Erkenntnisse handelt (wobei die Diskussion durch verborgene Glaubens-
propaganda nur getrübt wird, denn der Sinn der Sache fordert Diskutierbarkeit zwi-
schen Menschen verschiedensten Glaubens), oder ob um unmittelbar bestimmte
Zwecke mit ihren Forderungen an gegenwärtiges Handeln (wobei Glaubenspropa-
ganda auf die Grundsätze dieses Handelns geht), oder ob um philosophisches Denken.
Nur vom letzteren3 ist hier die Rede. Da gilt:
Philosophieren, so lange es echt bleibt und wahrhaftig, will für sich keine Propa-
ganda, kein Aufzwingen, kein Überreden, es hat keinen Willen zur universalen Herr-
schaft. Nur eines will es: Gehört werden und geprüft werden durch diejenigen, die
durch ihr eigenes Leben und durch die Voraussetzung geistiger Entwicklung und Reife
zu solchem Denken fähig sind. Wo Glaubenspropaganda ist, da ist keine Philosophie.
2. Regeln für Diskussion: Man hat im Mittelalter Regeln für Diskussion entworfen.
Diese waren sinnvoll für die logisch-syllogistische Struktur der Gedankenfolge im Ge-
spräch. Sie sind rein objektiv, sachlich.283
Diese Regeln genügen nicht. Sie beschränken sich auf ein Gebiet des Logischen; wo
dieses nicht gilt, gelten auch jene Regeln nicht mehr.284 Für die eigentliche Diskussion,
bei der das Sachliche nur Medium ist der Communication der Idee und der Existenz,
gelten andere Regeln, die man abstrakt aussprechen kann, ohne dass sie wie Recepte
anwendbar wären:285
Man muss hören können, muss der Lust am Reden und am Überreden widerstehen.
Es kommt darauf an, die wesentlichen Fragen an den Anderen zu finden, d.h. die, wel-
che seine eigentliche Position an den Tag bringen. Schlecht diskutiert, wer den Ande-
ren nicht dazu bringt, dass er aus seiner Tiefe offenbart, was sachlich in ihm liegt.
Dazu ist notwendig, sich dem Andern entgegen zu bewegen, sich al pari zu verhalten,
keine Überlegenheit und keine vornehm distancierende Zurückhaltung eigenen besse-
ren Wissens fühlbar werden zu lassen, es sei denn in der Absicht des Communications-
abbruchs.286 Man muss in der Welt des Anderen sich bewegen, in unabsichtlicher Maske
der Denkungsart des Anderen sich anbequemen. Man muss in ihr einige Schritte mitge-
hen, ja in deren Tonart mitschwingen, muss jeweils in der Sphäre reden, die der Andere
noch nicht verlassen kann, muss es tun, auch wenn sie der eigenen fremd ist. Dies alles
kann geschehen, ohne unwahrhaftig zu werden. Dabei muss man die Gefahr in Kauf neh-
men, selber unter dem eigenen Niveau zu sprechen, dem Anderen13 Avancen zu machen.
Grundfehler ist immer der Drang zur Überlegenheit, das Rechthabenwollen, der Stolz.
a statt letzteren im Ms. und in der Abschrift Gertrud Jaspers letzterem
b nach Anderen im Aufsatz-Ts. 1946 hs. Einf. falsche