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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0414
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Grundsätze des Philosophierens

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Aber dieses alles ist nur möglich bei Bereitwilligkeit und Vertrauen des Anderen. Es
ist ein Fehler, die grundsätzlich feindliche Animosität des Anderen zu übersehen,
wenn sie da ist. Gegen diese lohnt entweder keine Anstrengung, oder es ist notwendig,
diese Animosität aufzulösen. Es muss vielleicht der Versuch des Gesprächs auf man-
nigfache Weise immer wieder gemacht werden, um sich entweder von dem Vergebli-
chen von neuem zu überzeugen, oder den glücklichen Zugang zu finden, die Brücke,
auf der nun die Communication wirklich beginnen kann.
Ganz anders ist die innere Haltung vor wirklicher Überlegenheit. Man durchschaut
und überblickt nicht, was dem Eigenen gegenüber umfassend, reif, hell und verwirk-
licht ist. Falsch wäre hier die Unterwerfung. Vielmehr ist die Haltung al pari auch hier
die allein wahre. Aber man muss nun mehr auf Führung des Anderen hören als selber
führen, warten, was zu Tage tritt, die Fragen versuchen, die schon als Fragen irrend
sein können und corrigiert werden müssen. Es ist die Haltung gesteigerter Offenheit,
geringsten Vorwegnehmens in der Bereitschaft, durch das Überlegene des Anderen die
eigene Erweiterung zu gewinnen.
Wer philosophiert, ist grenzenlos communicationsbereit und communicationsbe-
dürftig. Er sucht, was ihm widerspricht. Er will in Frage gestellt sein. Aber er stösst in
der Welt überall auf Glaubenspositionen, die sich umgekehrt verhalten: mit wem sie
keine Glaubensgemeinschaft haben, keine Gleichheit der Voraussetzungen besitzen,
mit dem suchen sie kein wesentliches Gespräch. Insbesondere viele Christen, die doch
aller Welt das Evangelium verkünden wollen, weichen absichtlich oder unabsichtlich
den eigentlichen Fragen aus.287 Sie wollen nicht reden mit dem Ungläubigen, sie er-
warten keine Verstehensmöglichkeit mit dem, dem das donum superadditum, die
Gnade, mangelt. Sie üben vielleicht eine Toleranz aus der indifferenten Haltung der
Ferne, aber nicht eine aktiv bereite Toleranz des Hörenkönnens.288 Und so verhalten
sich zahlreiche saecularisierte Glaubenspositionen, die alle noch von diesem Grund-
zug der Christlichkeit bestimmt sind: keine Discussion mit dem Ketzer.
3. Scheinwissenschaft: Wo philosophisch oder theologisch gesprochen wird,
kommt es zwar immer auf Gedanken an, aber darin nicht auf Argumente allein. Es
kommt an auf die Erfülltheit von Ideen und Gehalten, welche die rationale Bewegung
führen, die ohne das endlos und sinnfremd würde. Es kommt an auf das Sehen der
Menschen, mit denen ich diskutiere.
Die Haltung reinen Argumentierens, vermeintlich unpersönlicher Sachlichkeit all-
gemeiner Geltungen für den Verstand überhaupt ist die Scheinwissenschaftlichkeit in
Philosophie und Theologie. Sie will eine unberechtigte Objektivität des rational Sag-
baren, statt das Gesagte im Ganzen eines faktischen Lebens (im Umgreifenden dieses
Daseins, dieses Geistes, dieser Existenz) zu sehen oder doch zu spüren. Man charakte-
risiert sich selbst durch die Gesprächspartner, die man sucht. Man braucht nicht in-
diskret von der fremden und eigenen Wirklichkeit zu sprechen, aber diese muss, wo
 
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