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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0442
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Grundsätze des Philosophierens

439

»Montag, den 23. November ... Seit ungefähr zehneinhalb bis ungefähr eine halbe
Stunde nach Mitternacht.
Feuer
Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs,
Nicht der Philosophen und der Gelehrten.
Gewissheit. Gewissheit. Gefühl. Freude. Friede ...
Vergessen der Welt und aller Dinge äusser Gott.
Er findet sich nur auf den Wegen, die im Evangelium gelehrt sind.«318
Solche Erfahrungen zeigen den Unterschied eines gegenwärtigen real lebendigen Got-
tes und eines nur gedachten Gottes. Etwas ganz anderes als dieser Unterschied ist aber
der Unterschied zwischen der Wirkung und der Wirkungslosigkeit des Gottesglaubens.
Religion drängt zur Leibhaftigkeit, Philosophie zur wirkenden Gewissheit. Der Re-
ligion erscheint der Gott der Philosophie arm, blass, leer, sie nennt die philosophische
Haltung abschätzig »Deismus«. Der Philosophie erscheinen die religiösen Leibhaftig-
keiten wie eine trügerische Verschleierung und falsche Annäherung. Die Religion
schilt den Gott der Philosophie als Abstraktion, die Philosophie misstraut den religi-
ösen Gottesbildern als Verführungen zu wenn auch noch so grossartigen Götzen.
Im Abendland ist der reine Gedanke an den einen Gott auf zwei Wegen entstan-
den, in der griechischen Philosophie und im alten Testament. Auf beiden Wegen
wurde eine ungeheure Abstraktion vollzogen, aber auf ganz verschiedene Weise.
In der griechischen Philosophie erwächst der reine Monotheismus als Gedanke,
wird mit logischen Mitteln klar, wird aus ethischen Massstäben gefordert, in der Ruhe
des kühlen Gedankens gewiss. Er prägt nicht Menschenmassen des Volkes, sondern
Einzelne. Sein Ergebnis sind Gestalten hoher Menschlichkeit und freie Philosophie,
keine wirksame Gemeinschaftsbildung. Aus der mythischen Religion hervorgegangen,
wird der Gedanke zur Philosophie.
Im alten Testament erwächst der Monotheismus schrittweise in der Leidenschaft
des Kampfes um den reinen, wahren, einzigen Gott. Die Abstraktion vollzieht sich
nicht durch Logik, sondern in der Betroffenheit durch Bilder, Anschauungen, Leib-
haftigkeiten, welche Gott vielmehr verdecken als zeigen, und weiter in der Auflehnung
gegen die Verführungen durch den Kultus, durch dionysische Feste, durch den Lei-
stungsgedanken beim Opfern. Gegen die Baale, die Gesamtheit der innerweltlichen
Religion, ihr Glück und ihre Feste, ihre Beruhigung und Selbstzufriedenheit, ihre sitt-
liche Indifferenz wird der reine Gottesgedanke als Dienst vor dem lebendigen einen
Gott gewonnen. Dieser wahre Gott erträgt kein Bildnis und Gleichnis, legt keinen Wert
auf Kultus und Opfern, auf Tempel und Riten, sondern allein auf Rechthandeln und
Liebe zum Menschen (Micha, Jesaias, Jeremias). Diese leidenschaftliche Abstraktion
wirkt wie ein Nihilismus gegen alles Weltsein, aber kommt aus der Fülle eines absolu-
ten Bewusstseins, dem der überweltliche Schöpfergott mit seinen ethischen Forderun-
 
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