Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0448
License: Free access  - all rights reserved

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Grundsätze des Philosophierens

445

Es ist zu unterscheiden der Schritt vom Mythus zur Philosophie und der vom My-
thus zur Wissenschaft.
Das Wissen der anfänglichen Philosophie - bei den Vorsokratikern und in den Upa-
nischaden - bedeutet eine Befriedigung im Denken des Seinsganzen durch den blos-
sen Gedanken. Dieser Gedanke bedarf des Mythus nicht mehr, er benutzt den Mythus
nur noch als Spiel. Dieses Denken ist grundsätzlich anders als Verstandesdenken. Das
ist besonders fühlbar, wo aus dem an sich kontemplativen mythischen Denken das ak-
tive magische Denken folgt. In den Riten der Brahmanen etwa war eine verwickelte
Rationalität entfaltet, um zur Erreichung von Macht, Sieg, langem Leben, Reichtum,
Befreiung vom »Wiedertod«325 nach dem Tode die richtigen magischen Handlungen
zu vollziehen. Dieses Denken, das einen Zweck als Folge des Wissens anstrebt, ist sei-
ner Struktur nach analog dem späteren wissenschaftlichen Denken, nur mit dem Un-
terschied, dass das wissenschaftlich-technische Denken seinen Zweck erreicht, wäh-
rend das magische illusionär, darum wirkungslos bleibt. Von beiden ist das
philosophische Denken, wie es gerade in jener Frühzeit grossartig, einfach, rein uns
begegnet, verschieden. Es erfolgt durch es eine Erlösung im Wissen selber, nicht durch
eine magische Folge des Wissens. Dass diese philosophische Grunderfahrung noch
magisch ausgedrückt werden kann - als ob das Wissen die magische Folge der Erlösung
habe -, bedeutet die noch gebliebene Bindung an die vorhergehende mythisch-magi-
sche Denkform bei faktischer Neugewinnung von Bewusstsein. Der weitere Schritt des
Philosophierens - der weder in den Upanischaden noch bei den Vorsokratikern getan
wurde -, ist die Aneignung der Wissenschaft. Die Befreiung durch das Wissen im den-
kenden Anschauen alles Seienden in seinen Stufen, Dimensionen, Möglichkeiten und
Wirklichkeiten, in seinen Erforschbarkeiten und Feststellbarkeiten, ist Befreiung zum
Leben der Existenz, die das Sein und sich selbst auch wieder in mythischen Bildern
versteht. Zwischen Mythus und Philosophie ist kein endgültiger Konflikt, weil Philo-
sophie den Mythus verwandelt aneignet.
Anders Mythus und Wissenschaft. Hier ist aber zu unterscheiden einerseits Glaube
und Wissen, andererseits Mythus und Wissen. Glaube und Wissen sind wesensver-
schieden (ich glaube an Gott, ich weiss, dass die Erde rund ist). Glaube bedeutet exi-
stentielle Gewissheit im eigentlichen Sein ohne Allgemeingiltigkeit für das zwingende
Wissen jeden Verstandes. Wissen bedeutet zwingende Gewissheit empirischer und ra-
tionaler Feststellbarkeiten. Mythus und Wissen beziehen sich teilweise auf die glei-
chen Inhalte. Aber Mythus bedeutet gegenständliche Anschauungsweise des Wesent-
lichen durch überlieferte Erzählung in einem Hinnehmen ohne Frage und Forschung;
Wissenschaft bedeutet gegenständlich bestimmtes Wissen, das methodisch durch
Frage und Forschung erworben ist.
Glaube und Wissen können, wo sie sich recht verstehen, als sinnverschieden gar
nicht miteinander in Konflikt kommen. Soweit aber Glaube in Mythen sich ausspricht,
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften