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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0450
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Grundsätze des Philosophierens

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wirklichen. Statt seine anfängliche Realität zu bewahren, ist er nunmehr entweder zur
Auflösung in unverbindliche aesthetische Symbole als Gegenstand geistigen Genus-
ses verurteilt, oder er ist mögliche Sprache der Wirklichkeit an Existenz.
Charakterisiere ich die drei Weisen mythischen Denkens zusammenfassend, so ist
der Inhalt entweder real und dann leibhaftig zwingend wirksam wie die Realitäten un-
seres Daseins, - oder er ist symbolisch und wird dann aesthetisch unverbindlich, - oder
er ist Sprache der Wirklichkeit und wird dann bei Mangel aller Realität verbindlicher
Ausdruck der Wirklichkeit für Existenz. Die erste Weise seiner Realität ist die Form sei-
ner historischen Wirksamkeit in Massenprägungen; die zweite Weise seiner Symbolik
ist die Form seines Verschwindens im Bildungsbestand einer aesthetisch werdenden
Lebensform; die dritte Weise seiner Sprachkraft der Wirklichkeit ist die Form seiner
philosophischen Verwirklichung: Wenn der Mythus aus seiner anfänglichen Realisie-
rung verwandelt ist in Sprache der Wirklichkeit, dann besitzt er ohne Realität selber
Wirklichkeit für die verantwortliche Aneignung. Aber diese Wirklichkeit besitzt er
nicht eindeutig blos objektiv, sondern vieldeutig in der Subjektivität der verwirkli-
chenden Existenz.
cc. Mythisches Denken und Aberglaube: Es wäre sinnwidrig, gegenüber dem an-
fänglichen mythischen Denken der Menschheit von Aberglaube zu reden. Aberglaube
gibt es erst, seitdem es Glauben gibt in der Welt wissenschaftlichen und philosophi-
schen Denkens. Dann ist Aberglaube die Behandlung der Transcendenz als eines ir-
gendwo vorkommenden leibhaftigen Objekts. Mythische Inhalte werden zu abergläu-
bischen Inhalten, wenn sie als leibhaftige Realitäten festgehalten werden, so in
magischen Handlungen, in theosophischen Jenseitswahrnehmungen, in astrologi-
schem Denken.
dd. Die gewaltsame Bewahrung von Mythen, das Absurde: Wenn das Denken der my-
thischen Inhalte sich bemächtigt, die der Mensch doch nicht preisgeben will, dann wird
zum Ausweg im Konfliktsfalle zwischen Mythus und Wissenschaft die Forderung, nicht
dem Aberglauben zu verfallen, aber das Absurde als Absurdes glaubend zu bejahen, nicht
der Wissenschaft den Vorrang zu lassen auf den Gebieten, wo sie an sich zu Hause ist,
sondern sie zu verwerfen und den concreten Verwerfungsakt, das sacrificium intellec-
tus, überdies als Verdienst zu bewerten. Die Steigerung dieses gewaltsamen, verzweifel-
ten Verfahrens führt über das credo quod absurdum zum credo quia absurdum.326
Es bedarf keiner langen Erörterung, dass solche Forderung ein Attentat auf die von
Gott geforderte menschliche Wahrhaftigkeit ist unter Berufung auf vermeintliche,
zeitlich lokalisierte Offenbarungen eines Gotteswillens. Der wahre Gott verlangt von
uns gegen falsche Götzen, dass unsere Vernunft sich gegen die Forderung des Absur-
den wenden solle.
Das heisst nicht, dass der Verstand ein Recht habe gegen die Dialektik, gegen Anti-
nomien und Widersprüche als Gestalt philosophischen Denkens. Es ist nicht zu ver-
 
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