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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0455
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452

Grundsätze des Philosophierens

Erzähltwerden verloren geht. Es mag ein Schweigen geben, das Ausserordentliches ver-
birgt. Gerade das Reden davon würde beweisen, dass es sich nicht mehr um jenes Ge-
heimnis handeln kann.
Man hat das Wunder zu retten gesucht, indem man das schlechthin Einmalige, für
die Erkenntnis Unmögliche zugab und sagte: es kann nur berichtet werden, die Erzäh-
lung aber, das Zeugnis der Anwesenden sei eine eigene vollwertige Quelle auch empi-
rischen Wissens. Was als Glaubensinhalt wesentlich sei, dürfe als bezeugt in seiner äus-
seren Realität auch gewusst werden. Wer hier leugne, leugne die Möglichkeit aller
Geschichte und Geschichtswissenschaft.
Keineswegs. Die kritische Prüfung der Zeugnisse ist die Grundlage der Geschichts-
wissenschaft, ihr Gebundensein an Zeugnisse die Grenze ihrer Gewissheit. Diese Ge-
wissheit kann durch Vielseitigkeit des Bezeugtseins ausserordentlich wachsen und
praktisch vollständig werden. Aber durchweg bleibt sie mit Fragen verknüpft. Die Un-
sicherheit und Mangelhaftigkeit aller Zeugenaussagen bei der überwältigenden Mehr-
zahl der Menschen und in gewissem Masse auch noch bei den wenigen Verlässlichen
ist heute durch empirische Untersuchungen bekannt. Darum sind Erzählungen auch
von glaubwürdigsten Menschen immer unzuverlässig, wenn ihr Inhalt nicht durch
viele von einander unabhängige Zeugen inbezug auf denselben Fall bestätigt wird.
Worauf im einzelnen Fall der Irrtum der Erzählung beruht, ist keineswegs immer nach-
zuweisen. Wo bewusster Betrug im Spiel ist, da bedarf es zur Beurteilung der Sachver-
ständigen, die sich auf Trics und Taschenspielerkünste verstehen. Wo kein bewusster
Betrug vorliegt, sind die Möglichkeiten der Selbsttäuschungen fast nie zu übersehen.
Von allen sogenannten parapsychologischen Phaenomenen, die trotz aller Erzäh-
lungen und Versuche unglaubwürdig erscheinen, gilt die Alternative: Entweder sie
werden eines Tages wirklich erwiesen, dann gehören sie zu regelmässigen, erkennba-
ren Bedingungen unterstehenden Erscheinungen in der Welt, d.h. sie sind Gegen-
stände möglicher Erfahrung geworden, und gar keine Wunder mehr; - oder sie beru-
hen auf Selbsttäuschungen, Erinnerungsfälschungen, unwillkürlichen Verschiebungen
und gelegentlich auf Betrug.
Die Deutung der Wunder aus regelmässigen Erfahrungen nennt man rationalisti-
sche Wundererklärung. Diese gelingt inbezug auf viele Phaenomene, die damit aufhö-
ren, Wunder zu sein, z.B. die Erscheinungen des Hypnotismus und der Suggestion, die
suggestiven Heilwirkungen, die abnormen Erlebnisse und Erfahrungen von Psychopa-
then und Geisteskranken. Andere Wunder werden gedeutet durch Begreifen des Irr-
tums, durch den sie behauptet wurden, und hören damit ebenfalls auf, Wunder zu sein.
Das Wunder ist auch nicht mehr Wunder, wenn man es ab schwächt und angleicht
als das Seltene, Unwahrscheinliche, Unerwartete. Im Unwahrscheinlichen bleibt im-
mer die Möglichkeit, dass es doch eintreten kann, und das Wahrscheinlichste kann
ausbleiben. Daher das Recht zur Hoffnung im scheinbar Ausweglosen. Wenn dann das
 
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