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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0456
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Grundsätze des Philosophierens

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Unerwartete eintritt, spricht man von Wunder. Aber das ist kein Wunder, wenn z.B.
eine Kranke, die an einer absolut tötlichen Krankheit leidet, kurz vor dem Ende geheilt
wird, weil gänzlich unerwartet das Heilmittel für diese Krankheit gerade jetzt entdeckt
wurde. Für den Patienten allerdings ist es wie ein Wunder.335
Werden wir uns des Rätselhaften im Gang der Dinge und des Schicksals bewusst
und machen wir uns klar, dass wir eine erkenntnismässige Voraussicht nur in endli-
che, übersehbare Systeme von Naturvorgängen haben, so entzieht sich alles für uns
Wichtige der gewissen Voraussicht. Trifft es ein, kann es wie ein Wunder wirken. Aber
alles Geschehen im Ganzen ist so als Wunder zu erfahren, das Unbegreifliche im All-
täglichen, unser Dasein als solches, das[,] was als Führung durch Transcendenz er-
scheint, das Sichgeschenktwerden des Selbstseins.
Wunder in einem bestimmten Sinne ist vom Philosophieren her ein Unbegriff und
in jeder Gestalt als Glaubensinhalt zu verwerfen?
e. Die Ansprüche der Masse und des Einzelnen. - Die Erörterungen über Religion
und Philosophie leiden an einem Mangel, solange sie nur abstrakt über bestehende
Wahrheit oder Falschheit stattfinden. Religion wie Philosophie sind nur wirklich in
Menschen, die den Gehalten der Wahrheit im Vollzug ihres Lebens zugewandt sind.
Diese Verwirklichung geschieht beim Menschen in der Polarität von Masse und Indi-
viduum, von Gemeinschaft und Einzelnem. Jeder Mensch ist ein Einzelner und ist zu-
gleich Glied der die Masse umfassenden Gemeinschaft. Er kann sich weder isolieren
noch kann er sich als Einzelner durch Aufgehen in der Masse preisgeben, ohne in bei-
den Fällen sein Menschsein zu verlieren. Die Ansprüche des Menschen in der Masse
und die des Einzelnen gehören daher jedem Menschen. Jeder ist Masse und ist er selbst.
Die Polarität ist umgreifend. In dieser Polarität scheint die Religion den Ansprüchen
der Masse, die Philosophie denen des Einzelnen entgegenzukommen.
Vermeiden wir die falsche Voraussetzung einer möglichen richtigen Totalordnung
in der Welt, so vermögen wir das Entgegengesetzte in der Wirklichkeit anzuerkennen.
Notwendig ist beides, die Massenordnung und das Wagnis des Einzelnen.
Massenordnung scheint auf Objektivierung und Fixierung, auf Sinnlichkeit und
Handgreiflichkeit des Heiligen, auf Dogmatisierung zu beruhen; sie wird gewährlei-
stet durch Kirchen und ihnen analoge Institutionen. Das Wagnis des Einzelnen geht
auf den Weg der philosophischen Fragen und der nirgends endgültigen Antworten,
auf die Möglichkeit, im Spirituellen die eigentliche Wirklichkeit zu ergreifen und mit
ihm die Durchdringung des Daseins in der Welt zu versuchen.
Für jeden Menschen ist beides unerlässlich, zunächst in einer Ordnung der Masse
zu sich zu kommen, ihr eingeordnet zu sein, dann aber in der Einordnung seinen ei-
genen Weg als Einzelner zu finden. Der Einzelne findet seinen Weg nur, wenn Massen-

nach verwerfen, im Ms. gestr. Das gilt auch für die im Christentum behaupteten Wunder.
 
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