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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0468
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Grundsätze des Philosophierens

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hen, beim Philosophierenden ganz dabei sein, nicht eifern, wenn er verkündigt und vor-
lebt, was er glaubt. In der Realität sieht der Philosophierende aber nur zu oft den Weg
der Erstarrung und des Blindwerdens, der im Religiösen möglich wird. Die Religion wird
selber arm, wenn sie von Philosophie sich trennt. An sie erhebt der Einzelne den An-
spruch, auch in ihrer eigenen Möglichkeit zu bewahren, was zugleich als Philosophie
sich löst.
Der Einzelne hört in sich eine Forderung, wie ein Baum unter freiem Himmel al-
leinstehend zu wachsen. Ein solcher Baum wächst aus eigenem Wesen, hat in sich sei-
nen Halt, gewinnt eine freie einzige Gestalt durch Weite und Licht, die ihn umgeben,
nicht wie der Baum, der mit anderen im Walde wächst, beengt in der Form, aber sicher
in der Gemeinschaft, typisch und in der Masse wirksam, auf sich gestellt aber wehrlos
im Sturma.
Dieses Gleichnis trügt. Der Mensch kann als einsamer Baum nicht gedeihen. Ge-
rade aus der eigenständigen Einsamkeit erwächst der tiefste Wille zur Communica-
tion, die über alle Eingliederung hinaus die Bewegung zwischen Einzelnen ist, in der
sie selbst werden nur dadurch, dass der andere er selbst wird. Diese Communication
aber ist Communication Einzelner, geschichtlich. Gemeinsam erheben diese Einzel-
nen als solche ihre Ansprüche.
Aber diese Ansprüche des Einzelnen sind schwer oder garnicht, jedenfalls nur un-
ter strengen Bedingungen erfüllbar.
Dieser Glaube fordert die Substanz bildloser Gegenwärtigkeit der Transcendenz,
diese Wirklichkeit, welche alle Gestalten, Bilder, Gedanken umgreift, auflöst und zum
Verdampfen bringt, in welcher Existenz sich verwirklicht durch die Praxis geschicht-
licher Gegenwart. Es ist der Ernst des Entschlusses, welcher die Sprache der Transcen-
denz hört in der Freiheit von ihrer Realität.
Die Realitäten, welche aus den Massenansprüchen als die Leibhaftigkeit der Transcen-
denz angesehen werden, sollen sich verwandeln in blosse Sprache ohne Realisierung
im ausschliessenden Sinne der greifbaren Objektivität. Die Kraft des Gestaltlosen, die
der gestalteten Sprache zugleich Gewicht gibt und sie in die Schwebe bringt, sie der
Realisierung beraubt, indem sie doch als Wirklichkeit in der Sprache vernehmbar ist,
ist für Vernunft (für die Existenz in der Vernunft) das Wahre.
Offenbarung soll nicht mehr an specifisch lokalisierte Kundgabe Gottes gebunden
bleiben, sondern Offenbarung in aller Weltrealität durch die Geschichtlichkeit wer-
den, die allgemein ausgesprochen immer vieldeutig ist und nicht identisch übertra-
gen werden kann.

Sturm im Ms. Vdg. für Winde
 
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