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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0485
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482

Grundsätze des Philosophierens

der verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde.«379 - Ferner die Ant-
wort Jesu auf das Wort des Jüngers:a Es ist nicht gut[,] ehelich zu werden: »Das Wort
fasst nicht jedermann, sondern dem es gegeben ist.«380
Die drei Antriebe, die in diesem Ethos nebeneinander stehen - Forderung der Rein-
heit des Herzens, der liebenden Communication zwischen Menschen, der Ausserwelt-
lichkeit - sind zunächst einzeln aufzufassen:
1) Der Anspruch an Reinheit ist restlos wahr. Sein Sinn, einmal erfasst, ist unver-
lierbar. Der Anspruch ist unendliche Aufgabe. Der direkte Wille kann ihn nicht erfül-
len. Alles Wollen ist indirekt zu ihm, steht unter seiner Voraussetzung.
2) Die Forderung der liebenden Communication ist wahr. Sie bringt die Erfüllung
des Daseins. Sie ist die Quelle der Ordnung der Menschenwelt, sofern sie im Innersten
des Herzens, nicht nur in Recht und Zwang entspringt. Aber Jesus hat die Aufgabe lie-
bender Communication nicht in ihrem ganzen Umfang ergriffen. Er betont die pas-
sive Seite, das Dulden und Leiden [,] und andererseits die allgemeine tätige Hilfeb. Nicht
dagegen liegt in seinem Blickfeld die Communication der darin sie selbst werdenden
einzelnen Menschen. Seine Communication bleibt unpersönlich, ohne Sinn für die
Geschichtlichkeit der je besonderen in der Welt sich verwirklichenden Communica-
tion.
3) Die ausserweltlichen Forderungen und Ratschläge beruhen auf einer Unmög-
lichkeit. Sie fordern eine specifische, weltlose, selbstmörderische Ethik vollständiger
Hingabe ohne Selbstbehauptung in der Erwartung des bevorstehenden, noch für die
lebende Generation eintretenden Weltuntergangs. Diese Ethik praktisch durchzufüh-
ren, würde das Dasein vernichten. Es ist eine Entscheidung für oder wider notwen-
dig.381 Es gibt hier keine Annäherung an ein Ideal, kein mehr oder weniger. Die Forde-
rung zu verwirklichen, bedeutet Untergang in dieser Welt.382 Ihre unter zufälligen
Bedingungen mögliche Scheinverwirklichung bedeutet Selbsttäuschung.0
Aber eine Wahrheit in diesem Anspruch an Weltlosigkeit ist der Entwurf eines Rei-
ches Gottes, das zwar in der Welt von keinem Menschen zu betreten ist, aber über al-
lem Menschentum als Maasstab steht, an dem Grundeigenschaften dieses menschli-
chen Daseins offenbar werden. Wenn es heisst: Ihr sollt vollkommen sein, wie euer
Vater im Himmel vollkommen ist,383 so kann dieser Satz wesentlich zum Bewusstsein
bringen, dass dem Menschen diese Vollkommenheit grundsätzlich unmöglich ist.
Nicht diesen Forderungen zu genügen, kann der Sinn sein, auch nicht, sich ihrer Er-
füllung anzunähern, sondern an ihnen zu spüren, was menschliches Dasein ist. Sie in
a Jüngers: nach der Abschrift Schott statt Jüngers, in den Abschriften Gertrud Jaspers und A. F.
b nach Hilfe im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. gleichmässig für jedermann, für jeden, der gerade
räumlich anwesend, nahe ist
c nach Selbsttäuschung, im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. Ein bedingtes und absichtliches Verhal-
ten nach diesen Grundsätzen wird zu einer unreinen Aggressivität in Gestalt verlogener Demut.
 
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