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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0501
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Grundsätze des Philosophierens

Durch die Perspektive der abstrakten Raumerweiterung wollen wir nur eine Vor-
aussetzung für unsere Erörterung der biblischen Religion bewusst machen. Wir versu-
chen zuerst, für die Bibellektüre Richtlinien zu entwerfen, dann die biblische Religion
im Ganzen zu charakterisieren, dann die aus ihrem Wesen entspringende Aufgabe ih-
rer Verwandlung zu entwerfen, schliesslich das Verhältnis der auf die Achsenzeit im
Ganzen blickenden Philosophie zur biblischen Religion auszusprechen.
Die Bibel ist der Nieder schlag von mehr als einem Jahrtausend religiöser Entwick-
lung. Wer offen sich ihr zuwendet, für den ist lebendig immer das Ganze, wenn auch
im Gange der Geschichte Glaubenspositionen stets etwas einzelnes, das in der Bibel
vorkommt, in den Vordergrund geschoben und von da her alles andere gedeutet, um-
gedeutet, abgewertet haben.
a. Bibellektüre
Nur durch eigene Bibellektüre kann der Mensch der Substanz inne werden, deren Ver-
wandlung in der Erscheinung durch das Jahrtausend der Bibelentstehung und durch die
beiden folgenden Jahrtausende der Bibelwirkung geschehen ist. Ihre Gehalte sind anzu-
eignen in der Auslegung und in der Auslegung geschehener Auslegung, einem unüber-
sehbaren Process der Anstrengung höchster Geister des Abendlandes. Auch im Philoso-
phieren kann der Boden dieser Gehalte nur durch eigene Bibellektüre betreten werden.
Dazu gehört eine Technik des Lesens mit Hilfe der alttestamentlichen und neute-
stamentlichen Forschung, ein Bewusstsein der geschehenen Interpretationen und des
eigenen Interpretierens, Klarheit über das Ursprüngliche und das Abgeglittene der Er-
scheinung der biblischen Wahrheit in den biblischen Texten.
aa. Technik des Lesens: Glücksfälle lassen beim Treffen auf günstige Stellen ein
sachlich wesentliches Verstehen ohne weiteres erwachsen. Bibellektüre im Ganzen
aber ist heute sinnvoll nicht mehr möglich ohne Hilfe der Gelehrten. Erforschung und
Interpretation des alten und neuen Testaments durch die Theologen gehört neben den
exakten Naturwissenschaften und der klassischen Philologie zu der höchstwertigen
wissenschaftlichen Literatur überhaupt.
Nur durch die Gelehrten lässt sich klar vor Augen bekommen, was dann ohne sie
als Wahrheit rein ausgesprochen oder als Falschheit verworfen werden kann! Man
braucht zum Verständnis das Wissen um die historische Lokalisation der Schriften,
um die Situation, in der sie entstanden sind. Erst in der nur historisch zu vergegenwär-
tigenden Erscheinung kann die Ergriffenheit vom Ewigen und die sachliche Auffas-
sung des Gütigen möglich werden.
Da die Bibel nicht eine Sammlung vollständiger und unversehrter Schriften ist,
sondern zum grössten Teil eine Sammlung von Texten, die in vielfachen Bearbeitun-
gen, Gruppierungen, Zusätzen durch Jahrhunderte als eine Schichtenablagerung mit
Verwerfungen entstanden sind, muss die gelehrte Analyse erst die einzelnen Schich-
 
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