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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0502
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Grundsätze des Philosophierens

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ten sondern, die hohen ursprünglichen Texte, etwa des Jeremias oder der echten Je-
susworte, heraussondern, die Zusätze und Redaktionen erkennen. Was hier im Laufe
zweier Jahrhunderte geleistet ist, wirkt trotz der Ungewissheiten im einzelnen als ein-
zigartige Wiederherstellung. Eine Textgeschichte ist klar geworden im Zusammenhang
mit religionsgeschichtlichen, formgeschichtlichen, literaturgeschichtlichen Einsich-
ten. Diese sind nun unumgänglich für ein Bibelverständnis, das die Voraussetzungen
von Wahrhaftigkeit und Realitätssinn moderner Wissenschaft anerkennt, und das erst
durch diese hindurch, sie dann im Rücken lassend, den eigentlichen Glaubensgehal-
ten sich zuwendet.
Wenn wir in der Jugend an eine grosse geistige Arbeit gehen, so vertrauen wir dem
Urteil verehrungswürdiger Männer, dass es sich lohne. Nicht immer sind wir sogleich
gefesselt, oft muss man sich durchquälen in lernender Arbeit eines Verstehens des vor-
her schlechthin Unverständlichen. Für kein Buch lassen sich wie für die Bibel so viele
Urteile unserer grossen Männer bis zu Nietzsche einschliesslich aufzeigen in dem
Sinne, dass dieses Buch einzig, unersetzlich, unerlässlich sei.
Man hat den Versuch gemacht, die Bibel nahe zu bringen durch Auswahlen, Ver-
kürzungen, andere Anordnungen.417 Mir scheint dies - abgesehen von dem Unterricht
in biblischer Geschichte für Kinder418 - nicht förderlich. Die Fremdheit dieser Schrif-
ten, die zwei bis drei tausend Jahre zurückliegen, wird doch nicht aufgehoben, ein an-
schauliches Verständnis nicht erreicht. Es soll durch solche Auswahlen ein unmittel-
bares Verstehen[,] wie es früher der gläubige Leser vollzog, erreicht werden. Das ist
nicht mehr möglich. Es geht nur durch vermitteltes Verstehen hindurch, um dann am
Ende in jene erworbene Unmittelbarkeit zu kommen, in der die einzige Wahrheit nun-
mehr unzerstörbar aufgehen kann. Für die Lektüre aber ist die Lutherbibel nicht mehr
das zuerst geeignete Buch. Man braucht die kommentierte, moderne, vollständige
Übersetzung.419
bb. Interpretation: Glaube im Zusammenhang mit Überlieferung kann nur den-
kend glauben: was er glaubt, gewinnt er in der Auslegung des Wortes, d.h. der Texte.
Die Bibel war zwei Jahrtausende die Schatzkammer der menschlichen Vorbilder
und Gegenbilder. Dort fand man für alle religiösen und weltlichen Möglichkeiten die
Auffassungsschemata, gleichsam die vorgezeichneten Gleise, in denen die nachkom-
menden Menschen ihre Bahn gingen. Staatsmänner und Kirchenfürsten, Mönche und
Weltleute, in hohen Situationen der Geschichte und in privatesten Angelegenheiten[,]
suchten ihre Entscheidung aus der Bibel. Die menschlichen Grundverhältnisse und
Grundsituationen, das Natürliche und das Extreme, alles war hier vorgebildet, aber in
den daraus entspringenden Forderungen auf Gott bezogen. So fand man, was man
sollte, erfuhr den Halt, der unerschütterlich machte, und die Kraft des Ertragens, des
Erleidens, der Aktivität, der Hoffnung auch in verzweifelter Lage. Die Urtypen mensch-
lichen Verhaltens waren für Jahrtausende hingestellt. Daher wurde die Bibel aber auch
 
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