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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0507
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504

Grundsätze des Philosophierens

fend Wahre im alten Testament beiseite geschafft. Das neue Testament ist historisch nur
ein später Anhang der Bibel, der nicht ausreicht, den Gehalt des alten aufzufangen. Da-
her hat die faktische Wirklichkeit der christlichen Religion sich auch durch zwei Jahr-
tausende in so weitem Umfang auf das alte Testament gestützt und stützen müssen.
Solche besonderen Interpretationsrichtungen legen sich wie ein Schleier über al-
les andere. Die biblische Religion im Ganzen geht verloren, wenn eines ihrer Momente
sich für das Ganze setzt und das übrige nach sich umdeutet, verfälscht, verschweigt.
Will man sich offen halten für die Wahrheit, die im Ganzen der Bibel durch das Ganze
spricht, so muss man jede bestimmte Fixierung, jede Versinnlichung, Dogmatisierung,
Vergesetzlichung, wie sie an Stellen der Bibel vorkommen, an anderen aufgehoben
sind, in die Schwebe bringen, die ihnen vom Ganzen der Bibel her zukommt. Man
muss die unüberwindlichen Widersprüche und die polaren Spannungen, die sich
durch die ganze Bibel ziehen, auffassen. Sie sind als der Rahmen zu bewahren, inner-
halb dessen das Wahre erscheint.
Dafür sind Forderungen ernst zu nehmen, die aus dem Glauben selber kommen,
wo er als Kirche allgemeinen Anspruch erhebt: Erstens: die Bibel ist im Ganzen das hei-
lige Buch, jeder in ihr vorkommende Text ist wahr. Dabei ist aber die Schwierigkeit,
dass keine sinnvolle Auffassung ohne wesentliche Gliederung nach Wert und Wahr-
heit der Bibeltexte auskommt. Zweitens: der Glaube als absolute Wahrheit ist die ganze
Wahrheit, er schliesst daher jede mögliche Wahrheit in sich. Dabei ist aber die Schwie-
rigkeit, dass die ganze Wahrheit, wenn sie als einzige und entscheidende Wahrheit ge-
wusst wird, im Aussprechen immer zu einer Fixierung eines in der Tat Besonderen
führt, von dem her anderes als Vorstufe, als Moment, als Teil behandelt wird, was je-
doch seinerseits von anderem Glauben wiederum in die Mitte gesetzt werden kann,
von der jene erste absolute Wahrheit nun nur als Teilmoment angesehen wird.
b. Charakteristik der Bibel
aa. Historische Herkunft der biblischen Religion:423 Die Bibel ist der Niederschlag reli-
giöser Entwicklung von Menschen, die dem Äussersten ausgesetzt fast jederzeit, um
leben zu können, anders sein mussten als glückliche Völker. Nur einen Augenblick hat-
ten sie zur Davidszeit in einer Pause der Weltgeschichte einmal politische Freiheit; ihr
Schicksal war es, als kleines Volk zwischen den Grossmächten Ägyptens und Babylo-
niens zerrieben werden zu müssen. Die biblische Religion hat in den kritischen Au-
genblicken den Glauben geschaffen, der diesen Menschen das Dasein ermöglichte.
Der Glaube des Moses führte sie aus der Knechtschaft Ägyptens. Als sie, ein kleines
Volk unter vielen anderen Völkern, Palästina eroberten und behaupteten, versanken
sie weitgehend, aber nicht völlig, in der kananäischen, vorderasiatischen Religion. Aus
dieser Verführung befreiten sie Propheten. Unter der Drohung der Grossmächte, in
grausamen Kriegen, in Vernichtung und Deportation, schliesslich im nationalen Un-
 
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