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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0512
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Grundsätze des Philosophierens

509

Während des Augenblicks, wo er drinnen ist, bleibt er vom Wintersturm verschont,
hat er jedoch rasch den kleinen Raum, wo es angenehmer ist, durchflogen, so ent-
schwindet er deinen Augen und kehrt aus dem Winter in den Winter zurück. So ist
auch dieses Menschenleben nur wie ein einziger Augenblick. Was ihm vorangegangen
ist und was ihm folgt[,] wissen wir nicht. Wenn uns also diese neue Religion grössere
Gewissheit darüber verschafft, so ist es meines Dafürhaltens recht, ihr zu folgen.433
bb. Historische Gestaltung der biblischen Religion: Die biblische Religion war in
ständiger Verwandlung eines im Grunde Gleichen, solange ihre Schriften entstanden.
Als dann die heilige Schrift durch ihren Kanon dieser Bewegung ein Ende zu setzen
schien, ging die Bewegung in der Tat weiter. Nur wurden die nunmehr entstehenden
Schriften nicht mehr Material für eine weitere Auswahl zur Vermehrung des ewig gü-
tigen Niederschlags, sondern bliebena ausserhalb. Für eine weltliche Betrachtung aber
ist kein radikaler Unterschied. Die biblische Religion hat ihre Verwandlung in der Er-
scheinung fortgesetzt. Zu ihren unumgänglichen Schriften gehören Augustin, Tho-
mas, Luther. Alle sind emporgerankt an der Bibel, sind in der Bibelinterpretation zu
sich gekommen.
Die historische Gestaltung der Religion ist aber kein rein geistiges Phaenomen. Re-
ligion verwirklicht sich nur in realer sociologischer Gestalt. Diese ist abhängig von den
allgemeinen historisch sich wandelnden Daseinszuständen. Was als Dasein Selbstbe-
hauptung ist, verbindet sich mit Religion. Diese Verbindung muss, wenn die Wirklich-
keit der Religion in der Zeit bleiben soll, zugleich der Selbstbehauptung dienlich sein,
oder jedenfalls die Selbstbehauptung nicht hindern, oder, wenn sie verneint, sie auf
eine Weise und unter Bedingungen verneinen, welche ungewollt doch die Selbstbe-
hauptung nicht aufheben. Wo aber Religion sociologisch wird - und wo sie es nicht
wird, sprechen wir nicht von Religion, sondern von Philosophie oder Mystik -, da ist
Selbstbehauptung im Religiösen selbst. Kirchliche Gemeinschaftsmächte kämpfen
nicht anders wie weltliche um ihr Dasein und ihre Machterweiterung; sie treiben Po-
litik. Daher sind auch die Forderungen der Verabsolutierung des eigenen Daseins, der
totalen Verurteilung des Anderen, Fremden, Feindlichen, des Lebenseinsatzes für das
Ganze dieses gemeinschaftlichen gegen anderes Dasein sich abgrenzenden Daseins.
Wir nennen diese Einsenkung des Religiösen in das Dasein das Geschichtlichwer-
den der Religion. In der biblischen Religion ist eine Steigerung dieses Geschichtlich-
werdens vollzogen durch das Bewusstsein von der Lenkung der Geschichte durch Gott.
Aber zugleich liegt in der biblischen Religion durch den Gedanken des Zieles und En-
des dieser Geschichte ein Antrieb zur Entgeschichtlichung: die Geschichte geht auf
ein Ende der Geschichte, auf eine Vollendung im Gottesreich, sei dieses in der Welt

blieben nach den Abschriften A. F. und Schott statt blieb in der Abschrift Gertrud Jaspers
 
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