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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0530
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Grundsätze des Philosophierens

527
rem Ursprung den eigenen Ursprung wiederzufinden. Wie diese Bedeutung der Philo-
sophiegeschichte sich verwirklicht, erörtern wir am Leitfaden der drei kantischen For-
derungen: Selbstdenken; an der Stelle jedes Anderen denken; mit sich selbst einstimmig
denken.464 Diese Forderungen sind unendliche Aufgaben; jede vorwegnehmende Lö-
sung, als ob man es schon hätte oder könnte, ist eine Täuschung; wir sind immer auf
dem Wege dahin. Die Geschichte hilft auf diesem Wege.
Selbstdenken erfolgt nicht aus dem Leeren heraus. Was wir selbst denken, muss uns
in der Tat gezeigt werden. Die Autorität der Überlieferung erweckt in uns die vorweg
geglaubten Ursprünge durch die Berührung mit ihnen in den Anfängen und in den
Vollendungen des historisch gegebenen Philosophierens. Alles weitere Studium setzt
diesen Glauben voraus. Ohne ihn würden wir die Mühe des Plato-, des Kantstudiums
nicht auf uns nehmen.
Alles eigene Philosophieren rankt sich gleichsam hinauf an den historischen Ge-
stalten. Im Verstehen ihrer Texte werden wir selber Philosophen. Aber diese Aneignung
ist nicht grundsätzlich Gehorsam. Sondern im Gehorsam prüfen wir am eigenen We-
sen. Gehorsam heisst hier sich der Führung anvertrauen, erst einmal für wahr halten;
wir sollen nicht gleich und jederzeit mit kritischen Reflexionen dazwischen fahren und
nicht dadurch den eigenen Gang unter der Führung lähmen. Gehorsam heisst weiter
der Respekt, der sich billige Kritik nicht erlaubt, sondern nur eine solche, die aus eige-
ner und umfassender Arbeit der Sache Schritt für Schritt näher kommt und dann ihr
gewachsen ist. Der Gehorsam findet seine Grenze darin, dass als wahr anerkannt nur
das wird, was im Selbstdenken zu eigener Überzeugung werden konnte. Kein Philosoph,
auch nicht der grösste, ist im Besitz der Wahrheit. Amicus Plato, magis amica veritas.465
Wir kommen zur Wahrheit im Selbstdenken nur[,] wenn wir unablässig bemüht
sind, an der Stelle eines jeden anderen zu denken. Man muss kennen lernen, was dem
Menschen möglich ist. Indem man ernstlich zu denken versucht, was der andere ge-
dacht hat, erweitert man die Möglichkeiten der eigenen Wahrheit auch dann, wenn
man sich dem anderen Denken verweigert. Man lernt es nur kennen, wenn man es
wagt, sich ganz in es zu versetzen. Das Ferne und Fremde, das Äusserste und die Aus-
nahme, ja das Absonderliche ziehen an, um nicht durch Auslassen eines Ursprüngli-
chen, durch Blindheit oder Vorbeisehen die Wahrheit zu verfehlen. Alles ist auf seinen
Grund zu prüfen in der Haltung der Vernunft (das Wahre soll noch in dem, der sich
der Wahrheit verschliesst, gleichsam gegen ihn und am Ende für ihn, an den Tag - es
gibt nichts schlechthin Verlorenes), in der Haltung der Gerechtigkeit (allem soll die
Anerkennung werden, die ihm zukommt), in der Haltung der Liebe (als ob in allem we-
nigstens ein Rest davon zu finden sein müsse, dass, was ist, von Gott geschaffen ist).
Daher wendet sich der Philosophierende nicht nur dem zunächst gewählten Philoso-
phen zu, den er als den seinen ganz und restlos studiert, sondern der universalen Phi-
losophiegeschichte, [um] zu erfahren, was war und gedacht wurde.
 
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