Grundsätze des Philosophierens
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die in den Texten vorkommenden Realien. Zu verstehen ist der unmittelbar gemeinte
Sinn der Texte. Anzueignen sind die Gehalte. Endziel ist die Teilnahme an der Wahr-
heit, die gegenwärtig ist gleichsam in dem einen grossen Augenblick des menschli-
chen Erwachens zu sich selbst - vollzogen in wenigen Jahrtausenden. Wenn das an-
eignende Denken den Raum gewinnt, wo gleichsam das Gespräch der Geister in ewiger
Gegenwart stattfindet, tritt der Denker ein in die lebendige Communication des Phi-
losophierens.
Die Idee der Wahrheit, an der ein jeder nur im geschichtlichen Gewände teilgewin-
nen kann, ist die Idee der philosophia perennis, der ewigen Philosophie, die eine ist.
Aber nicht nur fragwürdig, sondern unwahr wird eine philosophia perennis, die als
ein bestimmtes Lehrgebäude auftritt, welches wie eine Wissenschaft allgemeingiltig,
durch die Zeiten sich gleich bleibend, nur ausgebaut, aber nicht verwandelt wird. Es
ist wohl richtig, dass es eine Kategorien- und Methodenlehre als Werkzeug geben kann,
als ein Gebiet der philosophischen Logik, die wie eine Wissenschaft sich entfaltet, fort-
schreitet, sich erweitert und allgemeingiltige Erkenntnis enthält. Aber falsch wird jede
philosophia perennis als fixiertes System des Seins. Denn sie ist doch nur, und mag sie
so umfassend sein, wie bisher möglich wurde, eine historische Erscheinung der ewi-
gen Wahrheit, nicht diese selber. Der Anspruch eines bestimmten Lehrgebäudes als
philosophia perennis kann einen Zauber haben und eine betäubende Macht. Sie wird
zum Glauben an die Continuität des einen Wahren, das im Wissen schon da ist, wird
zum Widerstand gegen alles Neuere. Es ist der Grundzug des »katholischen« auch aus-
serhalb der katholischen Kirche, ein Zug, der sogar im Humanismus fühlbar werden
kann. Wenn so in der fälschlichen philosophia perennis ein Leben in Nachfolge und
Gehorsam, in Lernen und Üben, in Gelehrsamkeit erwächst, so alsbald auch ein Res-
sentiment gegen das Schöpferische, sofern es nicht als vergangen einverleibt wurde,
gegen die Ausnahme, gegen Krise und Revolution des Geistes. All das wird zusammen-
geworfen mit Anarchie, der »Schulstreik«466 wird verworfen, Bekenntnis und Unter-
werfung verlangt, sei es auch im Namen einer vermeintlichen Wissenschaft.
Der Weg zur Teilnahme an der ewigen Gegenwart des Wahren fordert nicht Besitz-
ergreifung einer schon vorhandenen, irgendwo vorzulegenden philosophia perennis,
sondern nach allen Seiten ausblickende Interpretation vergangenen Denkens. Man
muss die Sprache der Texte verstehen und muss Anschauung der historischen Welten
gewinnen, in denen diese Texte entstanden sind.
b. Sprache. - Ein verlässliches Verständnis ist nicht zu gewinnen ohne Bewusstsein
des Sprachsinns, in dem die Texte verfasst sind. Schon die eigene Sprache ist nicht
ohne weiteres zugänglich. Das Deutsch Kants ist nicht durchweg unser Deutsch, sein
Wortgebrauch und die Stimmung von Wendungen, Satzbildungen ist im historischen
Zusammenhang aufzufassen. Die fremden Sprachen, in denen philosophische Haupt-
werke geschrieben sind, erfordern besondere Anstrengung. Diese wird durchweg von
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die in den Texten vorkommenden Realien. Zu verstehen ist der unmittelbar gemeinte
Sinn der Texte. Anzueignen sind die Gehalte. Endziel ist die Teilnahme an der Wahr-
heit, die gegenwärtig ist gleichsam in dem einen grossen Augenblick des menschli-
chen Erwachens zu sich selbst - vollzogen in wenigen Jahrtausenden. Wenn das an-
eignende Denken den Raum gewinnt, wo gleichsam das Gespräch der Geister in ewiger
Gegenwart stattfindet, tritt der Denker ein in die lebendige Communication des Phi-
losophierens.
Die Idee der Wahrheit, an der ein jeder nur im geschichtlichen Gewände teilgewin-
nen kann, ist die Idee der philosophia perennis, der ewigen Philosophie, die eine ist.
Aber nicht nur fragwürdig, sondern unwahr wird eine philosophia perennis, die als
ein bestimmtes Lehrgebäude auftritt, welches wie eine Wissenschaft allgemeingiltig,
durch die Zeiten sich gleich bleibend, nur ausgebaut, aber nicht verwandelt wird. Es
ist wohl richtig, dass es eine Kategorien- und Methodenlehre als Werkzeug geben kann,
als ein Gebiet der philosophischen Logik, die wie eine Wissenschaft sich entfaltet, fort-
schreitet, sich erweitert und allgemeingiltige Erkenntnis enthält. Aber falsch wird jede
philosophia perennis als fixiertes System des Seins. Denn sie ist doch nur, und mag sie
so umfassend sein, wie bisher möglich wurde, eine historische Erscheinung der ewi-
gen Wahrheit, nicht diese selber. Der Anspruch eines bestimmten Lehrgebäudes als
philosophia perennis kann einen Zauber haben und eine betäubende Macht. Sie wird
zum Glauben an die Continuität des einen Wahren, das im Wissen schon da ist, wird
zum Widerstand gegen alles Neuere. Es ist der Grundzug des »katholischen« auch aus-
serhalb der katholischen Kirche, ein Zug, der sogar im Humanismus fühlbar werden
kann. Wenn so in der fälschlichen philosophia perennis ein Leben in Nachfolge und
Gehorsam, in Lernen und Üben, in Gelehrsamkeit erwächst, so alsbald auch ein Res-
sentiment gegen das Schöpferische, sofern es nicht als vergangen einverleibt wurde,
gegen die Ausnahme, gegen Krise und Revolution des Geistes. All das wird zusammen-
geworfen mit Anarchie, der »Schulstreik«466 wird verworfen, Bekenntnis und Unter-
werfung verlangt, sei es auch im Namen einer vermeintlichen Wissenschaft.
Der Weg zur Teilnahme an der ewigen Gegenwart des Wahren fordert nicht Besitz-
ergreifung einer schon vorhandenen, irgendwo vorzulegenden philosophia perennis,
sondern nach allen Seiten ausblickende Interpretation vergangenen Denkens. Man
muss die Sprache der Texte verstehen und muss Anschauung der historischen Welten
gewinnen, in denen diese Texte entstanden sind.
b. Sprache. - Ein verlässliches Verständnis ist nicht zu gewinnen ohne Bewusstsein
des Sprachsinns, in dem die Texte verfasst sind. Schon die eigene Sprache ist nicht
ohne weiteres zugänglich. Das Deutsch Kants ist nicht durchweg unser Deutsch, sein
Wortgebrauch und die Stimmung von Wendungen, Satzbildungen ist im historischen
Zusammenhang aufzufassen. Die fremden Sprachen, in denen philosophische Haupt-
werke geschrieben sind, erfordern besondere Anstrengung. Diese wird durchweg von