Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0533
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
530

Grundsätze des Philosophierens

den Philologen geleistet. Sie lehren uns - zumal im Griechischen - in gewissem Um-
fang Wortgeschichte, literarische Formen, Sprachgebrauch kennen. Es kann vorkom-
men, dass an philosophisch entscheidenden Stellen das richtige Wort aus der Verfäl-
schung der Texte wiederhergestellt und richtig verstanden werden muss. Die
Philologen verschaffen uns die bestmöglichen Texte.
Ganz bei der Sache ist unser Verstehen erst dann, wenn es mit Leichtigkeit den Be-
wegungen der Sprache zu folgen vermag, sie in ihrem jeweils besonderen Sinn, in ih-
ren Nuancen spürta. Solches Verständnis ist nur im Studium der philosophischen
Werke selber zu erwerben, nicht schon durch ein vorhergehendes Sprachstudium.467
Die praktische Grenze in der Erfüllung solcher Forderungen ist, dass der philoso-
phierende Mensch nicht alles in einem Leben leisten kann. In der Mehrzahl der Fälle
wird er ganz zu Hause sein nur in seiner Muttersprache, die modernen europäischen
Sprachen in einer gewissen geläufigen Durchschnittlichkeit verstehen, die antiken
Sprachen mit Übersetzungen begleitend lesen. Nur wenige Specialisten werden aus
den fremden Sprachen philosophisch Relevantes klar machen, wenn sie Philologen
und Philosophen zugleich sind.468 Das Allermeiste, was uns philosophisch bisher zu-
gänglich geworden ist, ist zwar nicht ursprünglich, aber wenn der Weg gewiesen wird,
auch an der Hand von Übersetzungen zu verstehen.
Übersetzungen bedeuten jedesmal einen Verlust gegenüber dem Urtext. Überset-
zungstexte sind nicht wie Urtexte philosophierend zu erforschen. Man blickt wie
durch einen Nebel. Trotzdem sind Übersetzungen unerlässlich. Je philosophischer im
Verständnis sie gemacht sind, je mehr der Übersetzer ein fast unbewusstes Medium ei-
nes durch ihn in die andere Sprache sich übersetzenden Sinns wird, desto wesentlicher
die Übersetzung. Durch solche Übersetzungen allein ist es möglich, dass wir eine An-
schauung von der universalgeschichtlichen Totalität des Philosophierens erhalten.
Niemand, der philosophiert, versteht alle Sprachen.
c. Historische Welten. - Man muss den Philosophen in seiner Welt sehen, um sein
Denken zu verstehen. Man muss die Praxis anschauen, die seinem Leben zugrunde-
liegt, die Umgebung, welche ihm die Gegenstände, Geschehnisse, Tätigkeiten liefert,
in deren Anschauung er denkt. Sie liefern ihm seine Gleichnisse und die Leitfäden des
Denkens. In ihr gelten die Selbstverständlichkeiten, denen auch der Philosoph unter-
worfen ist oder gegen die er sich, sich verwundernd und sie befragend, wendet. Die Si-
tuation, in der er denkt, ist für sein Denken wesentlich. Sie erweckt die Gehalte; sie
formt sein Denken. Man kann sich diese Umwelten nicht leibhaftig genug vor Augen
bringen, um sich dem Sinn des vergangenen Philosophierens zu nähern. Nur durch
die Klarheit dieser wechselnden Erscheinung hindurch ist das durch alle Zeiten Ge-
meinsame zu erreichen.

nach spürt im Ms. gestr., gleichsam in ihrer Intimität anwesend ist
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften