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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0534
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Grundsätze des Philosophierens

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Zum historischen Verständnis der Philosophen gehört daher auch die Geistesge-
schichte in ihrem ganzen Umfange, insbesondere die Religionsgeschichte und die Wis-
senschaftsgeschichte, aber auch die Geschichte aller anderen Seiten des Geistes und
die wirtschaftliche, politische, sociologische Geschichte. Wenn für das Verständnis
der alten Texte solche Voraussetzungen erworben sind, bedarf es immer noch im ein-
zelnen der Kenntnis der »Antiquitäten«, aller der Besonderheiten, welche die Kom-
mentare uns erklären.
d. Blick in die Werkstatt des Denkens. - Alles Denken geschieht in der Folge eines
persönlichen Lebens. Wie darin Schritt für Schritt getan wird, Sprünge geschehen, ein
Wirbel von Möglichkeiten stattfindet, überwältigende Einfälle die Führung ergreifen,
methodische Wege besonnen beschritten werden, das ist in biographischer Anschau-
ung vor Augen zu bringen.
Das ist in voller Deutlichkeit nur möglich, wo Aufzeichnungen, Vorarbeiten, Briefe
in grossem Umfang erhalten sind, wie bei neueren Philosophen (Kant, Nietzsche). Von
da her kommt alle begründete Anschauung, die dann auch bei den alten Philosophen,
wenn auch nur in grossen Zügen und immer hypothetisch, persönliche Entwicklun-
gen zu sehen erlaubt.
Im Biographischen ist der Einfluss der Überlieferung zu verfolgen. Was der Denker
las, vor Augen bekam, hörte, ist für unsere Anschauung wichtig, wenn es empirisch
belegt ist. Nur selten lassen sich die Faktoren und Ingredienzen beobachten, in deren
Zusammentreffen der schaffende Denkakt entsprang. Es kommt ganz und gar auf den
empirischen Nachweis an. Denn von der Anschauung tatsächlicher Gedankenent-
wicklung durchaus verschieden ist die Beobachtung von Sinnzusammenhängen phi-
losophischer Begriffe und Lehrstücke durch die Zeiten. Bei solcher Beobachtung ist
der reale Zusammenhang der Denker nur erschlossen, nicht bewiesen. Gewöhnlich
entstehen auf diesem Wege nur Sinnkonstruktionen, die eine Gedankenmasse über-
sichtlich machen. Die wirklichen Geschehnisse im realen Zusammenhang der geta-
nen Denkschritte sind ganz anders verlaufen als solche säuberlich scheidenden Ent-
würfe von Sinnfolgen.
Es sind seltene Glücksfälle, in denen man - nur bei neueren Philosophen - in die
Werkstatt des Denkens blicken kann. Das ist möglich, wo fast tägliche Aufzeichnungen
neben Briefen und Werken vorliegen. Der Gedanke in statu nascendi ist zwar auch da
nie geradezu zu erblicken. Das Wunder des Einfalls bleibt. Aber schon der Blick auf die
ersten Objektivierungen in Aphorismen, mannigfach variierenden Wendungen, schla-
genden Treffern der Grundsätze zeigt, wie das Denken in den systematischen, metho-
disch verfassten Werken keineswegs ursprünglich ist. Da wird ausgearbeitet, was in je-
nen Ansätzen im Keime schon klar ist. Bei solchem Bau pflegen andere Ansätze verloren
zu gehen. Die Werkstatt ist reicher als das Werk. Zugleich aber wird offenbar, wie erst im
entfalteten systematischen Werk das volle Innewerden und die allseitige Beherrschung
 
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