Karl Jaspers - Piper Verlag (1951)
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politischen Gestaltungswillens, der überhaupt nur in der freien Welt eine Chance hat,
wäre die unausbleibliche Folge. Für das Empfinden des sogenannten gesunden Men-
schenverstandes ist eben die politische Sklaverei, sei es in vergangener nationalsoziali-
stischer oder in gegenwärtig kommunistischer Form, nicht nur die »dialektische Kehr-
seite« der demokratischen Welt, sondern doch etwas »von der Wurzel her anderes«.
Auch der Fall Niemöller beleuchtet grell, wie schwer es heute für die bewußten
Christen ist, zur Welt ein positives, d.h. sinnvolles, wirklichkeitserfülltes Verhältnis
zu finden.368 Auch in der modernen christlichen Dichtung zeigt sich diese fundamen-
tale Schwierigkeit, so wenn der Elisabeth Langgässer die bis ins Unerträgliche gehen-
den Spannungen von sinnlichen und religiösen Ekstasen das Leben zu keinem natür-
lichen Gleichgewicht kommen lassen.369 Ich glaube mich zu erinnern, daß Sie in den
Gedichten von Holthusen Ähnliches zu bemerken glaubten.370
Ich hatte Lust, an Herrn Weymann-Weyhe einen Brief zu schreiben. Soeben
schrieb ich aber schon ausführlich an einen namhaften deutschen Dichter in Sachen
»Verrat aus Furcht« und brauchte dazu viel mehr Zeit, als ich anfangs gemeint hatte.
So darf ich mich nicht zu weit in briefliche Diskussionen nach »aussen«a einlassen,
obwohl man an allen Ecken und Enden den Menschen bei uns zurufen möchte, Maß
zu halten und nicht fortwährend in Extreme zu fallen, in diese wirklich schreckliche
deutsche Eigenschaft.
Dem Verfasser des obengenannten Artikels möchte ich aber doch »Vernunft und
Widervernunft in unserer Zeit« schicken und ihn bitten, durch eine gründlichere Lek-
türe Ihrer Bücher seine Meinung zu revidieren, Ihre Philosophie hätte nichts anderes zu
geben als eine inhaltlose »akademische Freiheit« und die »Freiheit des Humanismus« sei
»verloren«, also eine Sache, mit der [sich] zu beschäftigen sich gar nicht mehr lohnte.371
Ich nahm eben wieder die Kapitelübersicht zu dem von Ihnen geplanten Buche
»Deutsche Selbstbesinnung« in die Hand, die Sie mir freundlicherweise einmal sand-
ten.372 Bitte betrachten Sie es, verehrter Herr Professor, nicht als Zeichen eines Unver-
ständnisses für die große Arbeitslast durch Ihre vielseitige Tätigkeit und Ihre andern
wichtigen Pläne, wenn ich Sie frage, ob Sie es nicht doch unternehmen wollen, den
Buchplan der »Deutschen Selbstbesinnung« auszuarbeiten. Ich bin überzeugt, daß Sie
mit diesem Buche Deutschland einen sehr großen Dienst erweisen würden, gerade
wenn es - verzeihen Sie - mit einer gewissen kämpferischen Rücksichtslosigkeit in der
Behandlung der neuralgischen Punkte geschrieben würde.
Gewiß sind viele Aspekte des gegenwärtigen öffentlichen Lebens in Deutschland
bedenklich: die Reaktionären und Unbelehrbaren, die gegenüber dem Osten mit
Furcht und Unsicherheit Befangenen, das noch nicht gelöste Flüchtlingsproblem, der
Mangel eines neuen Verhältnisses zur deutschen Geschichte und zur jüngsten Ver-
a nach »aussen« hs. Einf.
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politischen Gestaltungswillens, der überhaupt nur in der freien Welt eine Chance hat,
wäre die unausbleibliche Folge. Für das Empfinden des sogenannten gesunden Men-
schenverstandes ist eben die politische Sklaverei, sei es in vergangener nationalsoziali-
stischer oder in gegenwärtig kommunistischer Form, nicht nur die »dialektische Kehr-
seite« der demokratischen Welt, sondern doch etwas »von der Wurzel her anderes«.
Auch der Fall Niemöller beleuchtet grell, wie schwer es heute für die bewußten
Christen ist, zur Welt ein positives, d.h. sinnvolles, wirklichkeitserfülltes Verhältnis
zu finden.368 Auch in der modernen christlichen Dichtung zeigt sich diese fundamen-
tale Schwierigkeit, so wenn der Elisabeth Langgässer die bis ins Unerträgliche gehen-
den Spannungen von sinnlichen und religiösen Ekstasen das Leben zu keinem natür-
lichen Gleichgewicht kommen lassen.369 Ich glaube mich zu erinnern, daß Sie in den
Gedichten von Holthusen Ähnliches zu bemerken glaubten.370
Ich hatte Lust, an Herrn Weymann-Weyhe einen Brief zu schreiben. Soeben
schrieb ich aber schon ausführlich an einen namhaften deutschen Dichter in Sachen
»Verrat aus Furcht« und brauchte dazu viel mehr Zeit, als ich anfangs gemeint hatte.
So darf ich mich nicht zu weit in briefliche Diskussionen nach »aussen«a einlassen,
obwohl man an allen Ecken und Enden den Menschen bei uns zurufen möchte, Maß
zu halten und nicht fortwährend in Extreme zu fallen, in diese wirklich schreckliche
deutsche Eigenschaft.
Dem Verfasser des obengenannten Artikels möchte ich aber doch »Vernunft und
Widervernunft in unserer Zeit« schicken und ihn bitten, durch eine gründlichere Lek-
türe Ihrer Bücher seine Meinung zu revidieren, Ihre Philosophie hätte nichts anderes zu
geben als eine inhaltlose »akademische Freiheit« und die »Freiheit des Humanismus« sei
»verloren«, also eine Sache, mit der [sich] zu beschäftigen sich gar nicht mehr lohnte.371
Ich nahm eben wieder die Kapitelübersicht zu dem von Ihnen geplanten Buche
»Deutsche Selbstbesinnung« in die Hand, die Sie mir freundlicherweise einmal sand-
ten.372 Bitte betrachten Sie es, verehrter Herr Professor, nicht als Zeichen eines Unver-
ständnisses für die große Arbeitslast durch Ihre vielseitige Tätigkeit und Ihre andern
wichtigen Pläne, wenn ich Sie frage, ob Sie es nicht doch unternehmen wollen, den
Buchplan der »Deutschen Selbstbesinnung« auszuarbeiten. Ich bin überzeugt, daß Sie
mit diesem Buche Deutschland einen sehr großen Dienst erweisen würden, gerade
wenn es - verzeihen Sie - mit einer gewissen kämpferischen Rücksichtslosigkeit in der
Behandlung der neuralgischen Punkte geschrieben würde.
Gewiß sind viele Aspekte des gegenwärtigen öffentlichen Lebens in Deutschland
bedenklich: die Reaktionären und Unbelehrbaren, die gegenüber dem Osten mit
Furcht und Unsicherheit Befangenen, das noch nicht gelöste Flüchtlingsproblem, der
Mangel eines neuen Verhältnisses zur deutschen Geschichte und zur jüngsten Ver-
a nach »aussen« hs. Einf.