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Karljaspers - Piper Verlag (1962)
Heute lege ich nun die zweite Adressenliste bei. Sie sind so freundlich bereit, mein
neues Buch an diese Adressen schicken zu lassen. An meine Basler Adresse erbitte ich
noch zwanzig Exemplare.
Sie fuhren nach Berlin, als Kennedys Aktion gegen Kuba gerade anfing. Seit-
dem erfolgte Überraschung auf Überraschung. Dass sie ein Wendepunkt ist, war am
ersten Tage klar, nicht aber, und auch heute nicht, wohin das führt. Ich denke: zur
Beruhigung ist gar kein Grund. Chruschtschows Schläue hat durch die völlige und
dadurch grossartig wirkende, sein Prestige gar nicht lähmende Nachgiebigkeit Kuba
als kommunistischen Staat gerettet. Damit bleiben, trotz augenblicklichen Abtrans-
ports der Raketen - wenn dieser überhaupt zuverlässig durchgeführt wird -, die Gefah-
ren bestehen. Chruschtschow war mit konventionellen Waffen nicht fähig, Kuba
zu schützen, so wenig wie die Nato fähig wäre, mit konventionellen Waffen Berlin
zu schützen. Chruschtschow wollte Kubas wegen nicht den Atomkrieg riskieren.
Amerika will es Berlins wegen nicht, sondern nur - so waren die letzten Wendun-
gen -, wenn Europa auf breiter Front im ganzen angegriffen wird. Von einer Wen-
dung der Gesinnung ist wohl auf beiden Seiten keine Rede. Eine substantielle Wende
würde erst dann sein, wenn der Westen so offenbar bereit zum Atomkrieg wäre, dass
Russland keinerlei Aggressionen mehr wagt. Und solche Bereitschaft könnte nur
zugleich mit einem Wandel der ganzen politischen Verfassung und inneren Hal-
tung des Westens stattfinden, die das Ethos und die Solidarität in der Politik und der
Wirtschaft des Westens gründen würde. Ich empfinde Kuba noch nicht als einen
Sieg. Dass zum erstenmal durch Kennedy eine Initiative des Westens einsetzt ange-
sichts der in der Tat für Amerika tödlichen Gefahr, bedeutet leider noch nicht, dass
die amerikanische Politik überhaupt einen neuen Weg auf die Dauer beschritten
hat.
Lebten wir, lieber Herr Piper, beide in der gleichen Stadt, würden wir jetzt vermut-
lich in ein intensives Gespräch komen. So bleibt mir nur ein herzlicher Gruss.
Ihr
Karl Jaspers
Ich lege wieder die Kärtchen für die Geschenkexemplare bei.
Sehr danken meine Frau und ich Ihnen für Ihre gelegentlichen Büchergeschenke.
Meine Frau las mir Stellen vor aus van de Velde und aus Renoir. - Sie selber hat
beide Bücher ganz gelesen. Der van de Velde ist ein historisches Dokument, für uns,
die wir die Zeiten zum Teil noch miterlebt haben, besonders. Dieses damals Neue, das
damals hohe Geltung hatte, in »Opposition« stand und doch keine eigentliche Kraft
und Tiefe hatte, gehörte zum geistigen Schicksal unserer Jugend.1370
Vielleicht ist die Renoir-Biographie von grösserer Bedeutung. Meine Frau war sehr
angetan, ergriffen. Was sie mir vorlas, hatte einen Charakter zeitlosen Gewichts.1371
Karljaspers - Piper Verlag (1962)
Heute lege ich nun die zweite Adressenliste bei. Sie sind so freundlich bereit, mein
neues Buch an diese Adressen schicken zu lassen. An meine Basler Adresse erbitte ich
noch zwanzig Exemplare.
Sie fuhren nach Berlin, als Kennedys Aktion gegen Kuba gerade anfing. Seit-
dem erfolgte Überraschung auf Überraschung. Dass sie ein Wendepunkt ist, war am
ersten Tage klar, nicht aber, und auch heute nicht, wohin das führt. Ich denke: zur
Beruhigung ist gar kein Grund. Chruschtschows Schläue hat durch die völlige und
dadurch grossartig wirkende, sein Prestige gar nicht lähmende Nachgiebigkeit Kuba
als kommunistischen Staat gerettet. Damit bleiben, trotz augenblicklichen Abtrans-
ports der Raketen - wenn dieser überhaupt zuverlässig durchgeführt wird -, die Gefah-
ren bestehen. Chruschtschow war mit konventionellen Waffen nicht fähig, Kuba
zu schützen, so wenig wie die Nato fähig wäre, mit konventionellen Waffen Berlin
zu schützen. Chruschtschow wollte Kubas wegen nicht den Atomkrieg riskieren.
Amerika will es Berlins wegen nicht, sondern nur - so waren die letzten Wendun-
gen -, wenn Europa auf breiter Front im ganzen angegriffen wird. Von einer Wen-
dung der Gesinnung ist wohl auf beiden Seiten keine Rede. Eine substantielle Wende
würde erst dann sein, wenn der Westen so offenbar bereit zum Atomkrieg wäre, dass
Russland keinerlei Aggressionen mehr wagt. Und solche Bereitschaft könnte nur
zugleich mit einem Wandel der ganzen politischen Verfassung und inneren Hal-
tung des Westens stattfinden, die das Ethos und die Solidarität in der Politik und der
Wirtschaft des Westens gründen würde. Ich empfinde Kuba noch nicht als einen
Sieg. Dass zum erstenmal durch Kennedy eine Initiative des Westens einsetzt ange-
sichts der in der Tat für Amerika tödlichen Gefahr, bedeutet leider noch nicht, dass
die amerikanische Politik überhaupt einen neuen Weg auf die Dauer beschritten
hat.
Lebten wir, lieber Herr Piper, beide in der gleichen Stadt, würden wir jetzt vermut-
lich in ein intensives Gespräch komen. So bleibt mir nur ein herzlicher Gruss.
Ihr
Karl Jaspers
Ich lege wieder die Kärtchen für die Geschenkexemplare bei.
Sehr danken meine Frau und ich Ihnen für Ihre gelegentlichen Büchergeschenke.
Meine Frau las mir Stellen vor aus van de Velde und aus Renoir. - Sie selber hat
beide Bücher ganz gelesen. Der van de Velde ist ein historisches Dokument, für uns,
die wir die Zeiten zum Teil noch miterlebt haben, besonders. Dieses damals Neue, das
damals hohe Geltung hatte, in »Opposition« stand und doch keine eigentliche Kraft
und Tiefe hatte, gehörte zum geistigen Schicksal unserer Jugend.1370
Vielleicht ist die Renoir-Biographie von grösserer Bedeutung. Meine Frau war sehr
angetan, ergriffen. Was sie mir vorlas, hatte einen Charakter zeitlosen Gewichts.1371