28ο
Laura Carrara
In Folgendem soll nun diese m.E. richtige Beobachtung weiterentwickelt und mit
Inhalt gefüllt werden; es gilt, erstens die für den Stil der Malalas-Chronik unüblichen
„rhetorical structures“ in Chronographia XVII16 genau zu identifizieren und zweitens
zu zeigen, dass solche Phrasen für eine bestimmte Typologie von antiken Werken
typisch sind, die nicht dem historischen/chronikalischen Schrifttum angehören, son-
dern eben dem rhetorischen Genre.
Am auffallendsten zeigt sich der rhetorische Charakter der hier zu untersuchenden
Erdbebenpassage auf S. 347, 47-348, 51 der Thurn-Ausgabe der Chronographia. Diese
Zeilen stehen ziemlich genau mitten in der Schilderung der seismischen Vorgänge,32
und unterbrechen mit ihrem eher meditativen Ton den Fluss der Schreckensbeschrei-
bung. Bevor man diese und die anderen relevanten Stellen näher analysiert, ist zur Ab-
sicherung der Ergebnisse ein längerer Exkurs zur textuellen Grundlage der folgenden
Überlegungen unumgänglich:
Das von Thurn auf S. 347, 47-348, 51 abgedruckte Textstück steht - wie ca. zwei
Drittel seines Kapitels XVII16 - nicht in dem griechischen codex unicus der Malalas-
Chronik, dem bereits erwähnten Oxoniensis Baroccianus 182 (O),33 sondern wurde von
ihm aus dem sog. „slawischen Malalas“ extrapoliert. Bei dem „slawischen Malalas“
handelt es sich um eine um das 9./io. Jahrhundert vielleicht in Bulgarien angefertigte
Übersetzung der Malalas-Chronik ins Kirchenslawische, deren Bedeutung für die
moderne Forschung sehr hoch ist: Denn als Arbeitsbasis dieser Übersetzung diente
eine noch vollständige Version der Chronik, also eine Version, die die Einbußen vom
Baroccianus (v.a. Abkürzungen und Auslassungen) noch nicht erlitten hatte.34 Das
bedeutet, dass für bestimmte Partien der Chronik die slawische Übersetzung den
ursprünglichen Malalas-Text treuer als der griechische Oxforder Codex wiedergibt;
Teile davon bewahrt sie sogar allein.35 Um auch die hauptsächlich oder ausschließlich
in der kirchenslawischen Fassung erhaltenen Malalas-Partien leicht(er) zugänglich
zu machen, fasste Thurn den Entschluss, diese ins Griechische zurück zu übersetzen
und in den Haupttext seiner Ausgabe aufzunehmen. Diese rückübersetzten Sätze und
Sektionen sind dort der Anschaulichkeit halber kursiv gesetzt.36 Das von Thurn mit
diesem Unterfangen eingegangene Risiko - nämlich einen griechischen Malalas-Text
zu produzieren, der in dieser Form nie existiert hat - ist offensichtlich und wurde
32 Die Erdbebenbeschreibung selbst reicht bis S. 349, 89 Thurn. Den letzten Teil des Kapitels (bis S. 350,
18 Thurn) nehmen Ereignisse der darauffolgende Tage bzw. Monate (Kreuzerscheinung, Folgebeben,
Verhalten des Kaisers) ein.
33 Zu dieser Handschrift aus dem 11. oder aus dem 12. Jahrhundert siehe Weierholt (1965), S. 12-18; Jeffreys
(i99od), 245-249; Thurn (2000), S. n*-i2*.
34 Für alle Probleme rund um die slawische Übersetzung (Herkunft, Datierung, Textgeschichte,
Zuverlässigkeit bezüglich der Rekonstruktion des Ur-Chronik des Malalas) sei auf Spinka (1940),
S. 4-10; Franklin (1990), S. 276-287; Franklin (2002), S. 149-150 und Sorlin (2004) verwiesen.
35 Dieser Sachverhalt tritt verstärkt im Buch XVIII auf, wo Auslassungen und Kürzungen häufiger wer-
den: siehe dazu Croke (1990a), S. 8 und bereits Patzig (1891), S. 5-17 sowie oben Anm. 11 und Anm. 12.
36 Dieselbe typographische Lösung findet sich in der an Thurns Ausgabe angelegten deutschen
Übersetzung von Thurn/Meier (2009).
Laura Carrara
In Folgendem soll nun diese m.E. richtige Beobachtung weiterentwickelt und mit
Inhalt gefüllt werden; es gilt, erstens die für den Stil der Malalas-Chronik unüblichen
„rhetorical structures“ in Chronographia XVII16 genau zu identifizieren und zweitens
zu zeigen, dass solche Phrasen für eine bestimmte Typologie von antiken Werken
typisch sind, die nicht dem historischen/chronikalischen Schrifttum angehören, son-
dern eben dem rhetorischen Genre.
Am auffallendsten zeigt sich der rhetorische Charakter der hier zu untersuchenden
Erdbebenpassage auf S. 347, 47-348, 51 der Thurn-Ausgabe der Chronographia. Diese
Zeilen stehen ziemlich genau mitten in der Schilderung der seismischen Vorgänge,32
und unterbrechen mit ihrem eher meditativen Ton den Fluss der Schreckensbeschrei-
bung. Bevor man diese und die anderen relevanten Stellen näher analysiert, ist zur Ab-
sicherung der Ergebnisse ein längerer Exkurs zur textuellen Grundlage der folgenden
Überlegungen unumgänglich:
Das von Thurn auf S. 347, 47-348, 51 abgedruckte Textstück steht - wie ca. zwei
Drittel seines Kapitels XVII16 - nicht in dem griechischen codex unicus der Malalas-
Chronik, dem bereits erwähnten Oxoniensis Baroccianus 182 (O),33 sondern wurde von
ihm aus dem sog. „slawischen Malalas“ extrapoliert. Bei dem „slawischen Malalas“
handelt es sich um eine um das 9./io. Jahrhundert vielleicht in Bulgarien angefertigte
Übersetzung der Malalas-Chronik ins Kirchenslawische, deren Bedeutung für die
moderne Forschung sehr hoch ist: Denn als Arbeitsbasis dieser Übersetzung diente
eine noch vollständige Version der Chronik, also eine Version, die die Einbußen vom
Baroccianus (v.a. Abkürzungen und Auslassungen) noch nicht erlitten hatte.34 Das
bedeutet, dass für bestimmte Partien der Chronik die slawische Übersetzung den
ursprünglichen Malalas-Text treuer als der griechische Oxforder Codex wiedergibt;
Teile davon bewahrt sie sogar allein.35 Um auch die hauptsächlich oder ausschließlich
in der kirchenslawischen Fassung erhaltenen Malalas-Partien leicht(er) zugänglich
zu machen, fasste Thurn den Entschluss, diese ins Griechische zurück zu übersetzen
und in den Haupttext seiner Ausgabe aufzunehmen. Diese rückübersetzten Sätze und
Sektionen sind dort der Anschaulichkeit halber kursiv gesetzt.36 Das von Thurn mit
diesem Unterfangen eingegangene Risiko - nämlich einen griechischen Malalas-Text
zu produzieren, der in dieser Form nie existiert hat - ist offensichtlich und wurde
32 Die Erdbebenbeschreibung selbst reicht bis S. 349, 89 Thurn. Den letzten Teil des Kapitels (bis S. 350,
18 Thurn) nehmen Ereignisse der darauffolgende Tage bzw. Monate (Kreuzerscheinung, Folgebeben,
Verhalten des Kaisers) ein.
33 Zu dieser Handschrift aus dem 11. oder aus dem 12. Jahrhundert siehe Weierholt (1965), S. 12-18; Jeffreys
(i99od), 245-249; Thurn (2000), S. n*-i2*.
34 Für alle Probleme rund um die slawische Übersetzung (Herkunft, Datierung, Textgeschichte,
Zuverlässigkeit bezüglich der Rekonstruktion des Ur-Chronik des Malalas) sei auf Spinka (1940),
S. 4-10; Franklin (1990), S. 276-287; Franklin (2002), S. 149-150 und Sorlin (2004) verwiesen.
35 Dieser Sachverhalt tritt verstärkt im Buch XVIII auf, wo Auslassungen und Kürzungen häufiger wer-
den: siehe dazu Croke (1990a), S. 8 und bereits Patzig (1891), S. 5-17 sowie oben Anm. 11 und Anm. 12.
36 Dieselbe typographische Lösung findet sich in der an Thurns Ausgabe angelegten deutschen
Übersetzung von Thurn/Meier (2009).