Johannes Malalas und die Rezeption des Konzils von Chalkedon
'47
Was heißt das für Johannes Malalas? Als Pierre Nora sein voluminöses Sammel-
werk zu Erinnerungsorten der französischen Geschichte in den 1980cm veröffent-
lichte, merkte er an, dass lieux de mémoire nur existieren können, sobald es keine mili-
eux de mémoire mehr gäbe, also kein Umfeld, in dem die Erinnerung noch die tägliche
Erfahrung beeinflusst: „II y a des lieux de mémoire parce qu’il n’y a plus de milieux
de mémoire.“78 In der Zeit des Malalas war das Konzil Chalkedon aber noch nicht
Geschichte, sondern ein mémoire vivante, da es noch keinen Bruch in den postchalke-
donischen Erinnerungen gab.79 Die Kontinuität dieser divergierenden Erinnerungen
war verantwortlich für zahlreichen Umdeutungen und Traditionsbildungen christli-
cher Gruppen, die eine allgemein anerkannte Deutung des Konzils verhinderten.
Roger Scott bemerkte vor ein paar Jahren ganz richtig, dass Geschichtsschrei-
bung das Genre sei, das auch theologische Debatten hinterfragen darf- aber nicht
die Chronik: „The genre for raising doubts was, however, not the chronicle but his-
tory, which by tradition permitted, even encouraged, the exploration of uncertainty
on theological issues, even for a committed Christian.“80 Wie ein Chronist damit
umging, dürfte je nach zeitlichen und persönlichen Umständen zu unterschiedlichen
Antworten geführt haben. Mehr als 100 Jahre vor Malalas propagierte der Kanz-
leischreiber Papst Leos, Prosper Tiro, der in den Jahren unmittelbar nach Chalke-
don seine Chronik schrieb, die päpstliche Sicht auf das Konzil: Eutyches hatte eine
Häresie erfunden, der auch Dioskoros folgte, und beide wurden unter päpstlichen
Federführung verdammt.81 Anders hingegen Marcellinus Comes, der seine Chronik in
Konstantinopel in einer Zeit heftiger Auseinandersetzungen zwischen Chalkedoniern
und Nichtchalkedoniern in den 52oiger Jahren (mit Nachträgen bis 534) schrieb.82 Er
ist zwar klar als Chalkedonier erkennbar, aber zum Konzil selbst bemerkt er korrekt,
dass Dioskoros 451 durch das Konzil von Chalkedon aus dem Bischofsamt entfernt
wurde - ohne weitere polemische Spitze.83
Als Johannes Malalas sein Werk zu seinem Abschluss brachte (wohl gegen Ende
der Regierungszeit Kaiser Justinians, vielleicht erst nach dessen Tode 505)84 dürfte ihm
des Kaisers letztes dogmatisches Projekt, sein Aphtharthodoketismus, ein warnendes
Beispiel gewesen sein, dass eine Definition reichskirchlicher Orthodoxie nicht von
Dauer war.85 Nicht nur die Interpretationen änderten sich, sondern auch die Fakten-
grundlage, auf der Kaiser und Kirche theologische Dogmen sanktionierten. Chalke-
don konnte deshalb für Malalas kein historisches Ereignis sein, das er seiner Chronik
einfügte wie die Regierungszeit eines Kaisers, sondern es entpuppte sich als kontinu-
78 Nora (1984), S. XVII.
79 Siehe auch Nora (1984), S. XXIII-XXV.
80 Scott (2013), S. 220.
81 Siehe Prosper Tiro, Chronicon c. 1358 und 1369 (v. Becker/Kötter, S. 126-129 und S. 132-133).
82 Brian Croke konstatierte, dass Marcellinus - obwohl er seine Chronik in Latein abfasste - „closer affi-
nities with eastern works such as the chronicle of John Malalas“ hatte als mit lateinischen Chroniken;
Croke (2001), S. 257.
83 Marcellinus Comes, Chronicon ad an. 451 (S. 20 Croke).
84 Malalas schrieb sein Werk in zwei Stufen - um 532 und nach 565; siehe Croke (1990), S. 17-25.
85 Zu Justinians „Bekehrung“ zum Aphtarthodoketismus siehe zuletzt Menze (2018).
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Was heißt das für Johannes Malalas? Als Pierre Nora sein voluminöses Sammel-
werk zu Erinnerungsorten der französischen Geschichte in den 1980cm veröffent-
lichte, merkte er an, dass lieux de mémoire nur existieren können, sobald es keine mili-
eux de mémoire mehr gäbe, also kein Umfeld, in dem die Erinnerung noch die tägliche
Erfahrung beeinflusst: „II y a des lieux de mémoire parce qu’il n’y a plus de milieux
de mémoire.“78 In der Zeit des Malalas war das Konzil Chalkedon aber noch nicht
Geschichte, sondern ein mémoire vivante, da es noch keinen Bruch in den postchalke-
donischen Erinnerungen gab.79 Die Kontinuität dieser divergierenden Erinnerungen
war verantwortlich für zahlreichen Umdeutungen und Traditionsbildungen christli-
cher Gruppen, die eine allgemein anerkannte Deutung des Konzils verhinderten.
Roger Scott bemerkte vor ein paar Jahren ganz richtig, dass Geschichtsschrei-
bung das Genre sei, das auch theologische Debatten hinterfragen darf- aber nicht
die Chronik: „The genre for raising doubts was, however, not the chronicle but his-
tory, which by tradition permitted, even encouraged, the exploration of uncertainty
on theological issues, even for a committed Christian.“80 Wie ein Chronist damit
umging, dürfte je nach zeitlichen und persönlichen Umständen zu unterschiedlichen
Antworten geführt haben. Mehr als 100 Jahre vor Malalas propagierte der Kanz-
leischreiber Papst Leos, Prosper Tiro, der in den Jahren unmittelbar nach Chalke-
don seine Chronik schrieb, die päpstliche Sicht auf das Konzil: Eutyches hatte eine
Häresie erfunden, der auch Dioskoros folgte, und beide wurden unter päpstlichen
Federführung verdammt.81 Anders hingegen Marcellinus Comes, der seine Chronik in
Konstantinopel in einer Zeit heftiger Auseinandersetzungen zwischen Chalkedoniern
und Nichtchalkedoniern in den 52oiger Jahren (mit Nachträgen bis 534) schrieb.82 Er
ist zwar klar als Chalkedonier erkennbar, aber zum Konzil selbst bemerkt er korrekt,
dass Dioskoros 451 durch das Konzil von Chalkedon aus dem Bischofsamt entfernt
wurde - ohne weitere polemische Spitze.83
Als Johannes Malalas sein Werk zu seinem Abschluss brachte (wohl gegen Ende
der Regierungszeit Kaiser Justinians, vielleicht erst nach dessen Tode 505)84 dürfte ihm
des Kaisers letztes dogmatisches Projekt, sein Aphtharthodoketismus, ein warnendes
Beispiel gewesen sein, dass eine Definition reichskirchlicher Orthodoxie nicht von
Dauer war.85 Nicht nur die Interpretationen änderten sich, sondern auch die Fakten-
grundlage, auf der Kaiser und Kirche theologische Dogmen sanktionierten. Chalke-
don konnte deshalb für Malalas kein historisches Ereignis sein, das er seiner Chronik
einfügte wie die Regierungszeit eines Kaisers, sondern es entpuppte sich als kontinu-
78 Nora (1984), S. XVII.
79 Siehe auch Nora (1984), S. XXIII-XXV.
80 Scott (2013), S. 220.
81 Siehe Prosper Tiro, Chronicon c. 1358 und 1369 (v. Becker/Kötter, S. 126-129 und S. 132-133).
82 Brian Croke konstatierte, dass Marcellinus - obwohl er seine Chronik in Latein abfasste - „closer affi-
nities with eastern works such as the chronicle of John Malalas“ hatte als mit lateinischen Chroniken;
Croke (2001), S. 257.
83 Marcellinus Comes, Chronicon ad an. 451 (S. 20 Croke).
84 Malalas schrieb sein Werk in zwei Stufen - um 532 und nach 565; siehe Croke (1990), S. 17-25.
85 Zu Justinians „Bekehrung“ zum Aphtarthodoketismus siehe zuletzt Menze (2018).