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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0053
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38 Morgenröthe

de vom 8. 12. 1875, KSB 5/KGB II/5, Nr. 494, S. 127). 1877 folgte Rees Werk Der
Ursprung der moralischen Empfindungen, dem schon vom Thema her wesentli-
che Ausführungen in der Morgenröthe verwandt sind. Am 16. 6. 1878 schrieb
N. an Rohde: „Wir fanden einander auf gleicher Stufe vor: der Genuss unserer
Gespräche war grenzenlos, der Vortheil gewiss sehr gross, auf beiden Seiten"
(KSB 5/KGB II/5, Nr. 727, S. 333, Z. 31-33). Allerdings war N. immer darauf be-
dacht, sich abzugrenzen und Originalität zu beanspruchen, wenn er fürchtete,
er könnte mit anderen „verwechselt" werden, wie es noch im „Vorwort" zu Ecce
homo heißt (KSA 6, 257, 17 f.). Bereits in dem schon zitierten Brief an Franz
Overbeck vom 6. März 1883 hatte er ja geschrieben: „Eine andere ,Befreiung'
will ich Dir nur andeuten: ich habe es abgelehnt, daß Ree's Hauptbuch ,Ge-
schichte des Gewissens' mir gewidmet wird - und damit einem Verkehre ein
Ende gesetzt, aus dem manche unheilvolle Verwechslung entstanden ist" (KSB
6/KGB III/1, Nr. 386). Unmittelbar vor den aus dem Brief an Rohde zitierten
Worten schreibt der so sehr und bis zu wahrheitswidrigen Behauptungen (vgl.
den Überblickskommentar zu den Quellen, S. 11-14 f.) auf seine Originalität Be-
dachte: „Beiläufig: suche nur immer mich in meinem Buche [Menschliches,
Allzumenschliches] und nicht Freund Ree. Ich bin stolz darauf, dessen herrliche
Eigenschaften und Ziele entdeckt zu haben, aber auf die Conception meiner
,Philosophia in nuce' hat er nicht den allergeringsten Einfluss gehabt"
(KSB 5/KGB II/5, Nr. 727, S. 333, Z. 25-29).
Der Schwerpunkt des Zweiten Buchs liegt auf der anthropologisch-psycho-
logischen Hinterfragung der Moral. Besondere Aufmerksamkeit widmet N. in
einer ganzen Text-Sequenz (Μ 132-146) dem zum traditionellen Repertoire der
Moralistik gehörenden Thema des Mitleids, das er schon in Menschliches, Allzu-
menschliches traktiert hatte (MA I 46, MA I 49, MA I 50) und das er intensiv in
der Fröhlichen Wissenschaft (FW 338) sowie in Jenseits von Gut und Böse (JGB
202, JGB 225, JGB 260) weiterführt. Schopenhauer hatte das Mitleid, wie vor
ihm bereits Rousseau, zum Fundament der Moral erklärt, während es die Stoi-
ker zu den aus Schwachheit entstandenen und auch schwächenden Affekten
rechneten (vgl. hierzu NK M 132 und NK M 134) und auch Kant es nicht als
die wesentliche Quelle moralischen Handelns gelten ließ. Da das Mitleid das
Verhältnis des empfindenden Individuums zum Mitmenschen betrifft, unter-
suchten schon frühere Moralisten, inwiefern das Mitleid trotz des Anscheins,
es handele sich um einen altruistischen Affekt, doch nur eine verkappte Form
des Egoismus sein könnte. Die skeptischen und im Hinblick auf die menschli-
chen Motive zum Pessimismus neigenden französischen Moralisten suchen
überall nach dem verborgenen oder sogar maskierten Egoismus. Sie entwerfen
damit eine Strategie des Verdachts und der Entlarvung. Ex negativo gehen sie
noch von der christlichen Hochschätzung des Altruismus, speziell der Barm-
 
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