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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0068
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Überblickskommentar 53

ten der Unzeitgemäßen Betrachtungen von Schopenhauer übernommen hatte;
er lässt auch eine traumatisch fortwirkende Erfahrung erkennen. Die Fachge-
lehrten, darunter die angesehensten Gräzisten der Zeit, hatten Die Geburt der
Tragödie nahezu einhellig als unseriöses Machwerk abgelehnt. Daher füllten
sich N.s Notizbücher alsbald mit gekränkten und abwertenden Urteilen über
die „Gelehrten". Vieles lässt auch später noch dieses Schwellentrauma spüren,
ganz analog zu Schopenhauer, der sein frühes Scheitern an der Berliner Uni-
versität zeitlebens den an der Universität reüssierenden Philosophie-Professo-
ren heimzahlte. Auch resultiert die in der Morgenröthe formulierte und noch
später fortwährende Abrechnung mit den Deutschen zu einem guten Teil aus
der in N.s Briefen spürbaren Enttäuschung darüber, dass er bis gegen Ende
seines bewussten Lebens in Deutschland kaum Resonanz fand. Dass es sich
geradezu um ein psychisches Trauma handelte, bezeugt das „Vorwort" zu Ecce
homo. Darin klagt er, „dass man mich weder gehört, noch auch nur gesehn
hat. Ich lebe auf meinen eignen Credit hin, es ist vielleicht bloss ein Vorurtheil,
daß ich lebe? ..." (KSA 6, 257, 9-11) Allerdings spielt in die enttäuschte Abrech-
nung mit den Deutschen auch diejenige mit seinen eigenen einstigen Fixierun-
gen herein, vor allem mit seiner frühen und bis zur Selbstaufgabe reichenden
Wagner-Verehrung, denn mit Wagner hatte er in seiner Erstlingsschrift noch
die Deutschtümelei, den Kult des „deutschen Geistes" sowie das antifranzösi-
sche Ressentiment geteilt.
Viertes Buch
Von den ersten drei Büchern unterscheidet sich das Arrangement der Texte im
vierten Buch in mehrfacher Hinsicht. Zunächst fällt auf, dass sich hier mehr
Aphorismen im engeren Sinn finden, weil N. zwar nicht durchgängig, aber oft
knapper formuliert als in den meistens zu kleinen Abhandlungen anschwellen-
den Meditationen der ersten drei Bücher. Allerdings bleiben die geschliffenen
Pointen und die scharfen Konturen, die den klassischen Typus des Aphorismus
auszeichnen, bei N. eher die Ausnahme. Zumeist handelt es sich nur um mehr
oder weniger treffende Apergus, Einfälle oder Reflexionen. Sodann ist jetzt der
Einfluss der traditionellen Moralistik stärker. Dies gilt schon für die themati-
sche Ausrichtung: N. nimmt verschiedenste menschliche Handlungen, Eigen-
schaften, Verhaltensweisen, Empfindungen, Zustände, Gewohnheiten und
Wertungen ins Visier, um sie psychologisch als scheinhaft zu entlarven und
hinter dem Schein eine andere Wirklichkeit zu entdecken. Wie schon in den
vorigen Büchern akzentuiert er gerne das „Gefühl der Macht" (Μ 245, M 348,
M 353, M 360, M 403) als Prinzip des menschlichen Ego (zu N.s Quelle vgl.
Brusotti 1993b).
 
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