98 Morgenröthe
spruch Demokrits, der die „gesunden", nicht vom dichterischen Wahnsinn zur
wahrhaft inspirierten Dichtung befähigten Poeten vom Berg „Helikon" ver-
bannte, dem Sitz der Musen seit Hesiod: „excludit sanos Helicone poetas /
Democritus". Seit dem Humanismus, der die antiken Topoi aufgriff, war die
Vorstellung vom dichterischen Wahnsinn, vom „furor poeticus", von Neuem
ein geläufiger Topos.
Doch wurde der Wahnsinn als Signum einer Ausnahmefähigkeit auch für
andere außergewöhnliche Begabungen in Anspruch genommen, die man mit
dem Etikett des „Genies" versah. Eine besondere Rolle spielte die Verbindung
des „Genies" mit der „Melancholie", die man seit den pseudoaristotelischen
Problemata nicht nur als depressive, sondern auch als manische Disposition
verstand und insofern dem genialen „Wahnsinn" zuordnete. „Warum", so be-
ginnt die Darstellung des Themas in den Problemata (953 a), „erweisen sich
alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung
oder in den Künsten als Melancholiker; und zwar ein Teil von ihnen so stark,
daß sie sogar von krankhaften Erscheinungen, die von der schwarzen Galle
[d.h.: der Melancholie] ausgehen, ergriffen werden?" Und weiter heißt es:
„Manche Melancholiker werden von Krankheiten der Raserei und der Begeiste-
rung ergriffen, woher die Sibyllen und Wahrsager und die Begeisterten alle
ihren Ursprung haben" (Problemata 30, 954 a). Ihre große Wirkung entfaltete
die fälschlicherweise dem Aristoteles zugeschriebene (daher die Bezeichnung
„pseudoaristotelisch" für die Problemata) Verbindung von Melancholie und
Genialität durch Ciceros Feststellung in den Gesprächen in Tusculum: „Aristote-
les etwa sagt, alle Genialen seien Melancholiker" („Aristoteles quidem ait om-
nes ingeniosos melancholicos esse"; Tusculanae disputationes I 80). Trotz des
zunehmend negativen Verständnisses der Melancholie in der medizinischen
Literatur, welche die Melancholie auf die depressive Phase einschränkte, reich-
te diese Wirkung bis in die Renaissance und darüber hinaus. Marsilio Ficino
erörtert im Anschluss an die von Aristoteles und Cicero ausgehende Tradition
die Frage, „warum Melancholiker genial sein können" („cur melancholici inge-
niosi sint ..."; Marsilio Ficino, De vita triplici, Buch I 5; 1482). Ficino verbindet
die platonischen Vorstellungen vom dichterischen „Wahnsinn" mit der „Melan-
cholie". Seine Schriften waren von großem Einfluss auf Dürers Melencolia I
(1514) und viele andere Künstler und Schriftsteller (hierzu und zum gesamten
Thema das Standardwerk von Klibansky/Panofsky/Saxl 1964. Deutsch: Kliban-
sky/Panofsky/Saxl 1990; Aristoteles 1983; Zusammenstellung der wichtigsten
Belege bei Flashar 1983, 715 ff.).
N. kannte nicht nur die von Platon und Horaz ausgehende Tradition des
genialen Wahnsinns, sondern war auch mit der Verbindung von Genie und
Melancholie in der soeben skizzierten Traditionslinie vertraut: durch Schopen-
spruch Demokrits, der die „gesunden", nicht vom dichterischen Wahnsinn zur
wahrhaft inspirierten Dichtung befähigten Poeten vom Berg „Helikon" ver-
bannte, dem Sitz der Musen seit Hesiod: „excludit sanos Helicone poetas /
Democritus". Seit dem Humanismus, der die antiken Topoi aufgriff, war die
Vorstellung vom dichterischen Wahnsinn, vom „furor poeticus", von Neuem
ein geläufiger Topos.
Doch wurde der Wahnsinn als Signum einer Ausnahmefähigkeit auch für
andere außergewöhnliche Begabungen in Anspruch genommen, die man mit
dem Etikett des „Genies" versah. Eine besondere Rolle spielte die Verbindung
des „Genies" mit der „Melancholie", die man seit den pseudoaristotelischen
Problemata nicht nur als depressive, sondern auch als manische Disposition
verstand und insofern dem genialen „Wahnsinn" zuordnete. „Warum", so be-
ginnt die Darstellung des Themas in den Problemata (953 a), „erweisen sich
alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung
oder in den Künsten als Melancholiker; und zwar ein Teil von ihnen so stark,
daß sie sogar von krankhaften Erscheinungen, die von der schwarzen Galle
[d.h.: der Melancholie] ausgehen, ergriffen werden?" Und weiter heißt es:
„Manche Melancholiker werden von Krankheiten der Raserei und der Begeiste-
rung ergriffen, woher die Sibyllen und Wahrsager und die Begeisterten alle
ihren Ursprung haben" (Problemata 30, 954 a). Ihre große Wirkung entfaltete
die fälschlicherweise dem Aristoteles zugeschriebene (daher die Bezeichnung
„pseudoaristotelisch" für die Problemata) Verbindung von Melancholie und
Genialität durch Ciceros Feststellung in den Gesprächen in Tusculum: „Aristote-
les etwa sagt, alle Genialen seien Melancholiker" („Aristoteles quidem ait om-
nes ingeniosos melancholicos esse"; Tusculanae disputationes I 80). Trotz des
zunehmend negativen Verständnisses der Melancholie in der medizinischen
Literatur, welche die Melancholie auf die depressive Phase einschränkte, reich-
te diese Wirkung bis in die Renaissance und darüber hinaus. Marsilio Ficino
erörtert im Anschluss an die von Aristoteles und Cicero ausgehende Tradition
die Frage, „warum Melancholiker genial sein können" („cur melancholici inge-
niosi sint ..."; Marsilio Ficino, De vita triplici, Buch I 5; 1482). Ficino verbindet
die platonischen Vorstellungen vom dichterischen „Wahnsinn" mit der „Melan-
cholie". Seine Schriften waren von großem Einfluss auf Dürers Melencolia I
(1514) und viele andere Künstler und Schriftsteller (hierzu und zum gesamten
Thema das Standardwerk von Klibansky/Panofsky/Saxl 1964. Deutsch: Kliban-
sky/Panofsky/Saxl 1990; Aristoteles 1983; Zusammenstellung der wichtigsten
Belege bei Flashar 1983, 715 ff.).
N. kannte nicht nur die von Platon und Horaz ausgehende Tradition des
genialen Wahnsinns, sondern war auch mit der Verbindung von Genie und
Melancholie in der soeben skizzierten Traditionslinie vertraut: durch Schopen-