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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0124
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Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 32 109

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32, 28 Freithäter und Freidenker.] „Freidenker" ist eine Übersetzung
der englischen Bezeichnung „free-thinkers". Sie entstand im England des aus-
gehenden 17. Jahrhunderts und bezeichnete Männer, die den christlichen Glau-
ben nur unter der Bedingung der Widerspruchsfreiheit und der Einsichtigkeit
gelten lassen wollten und die daher jeden dogmatischen Anspruch der kirchli-
chen Lehre ablehnten. John Toland nannte um 1710 sich und seine Freunde
selbstbewusst „free-thinkers". Anthony Collins legte in seinem 1713 erschiene-
nen Werk A Discourse of Free-thinking das Recht aller Menschen auf freies Den-
ken dar und erklärte dieses sogar zur Pflicht. Er definierte das freie Denken als
den „Gebrauch des Verstandes in dem Bestreben, den Sinn jedes beliebigen
Satzes herauszufinden, bei der Betrachtung der Art der Beweise für oder gegen
ihn und bei dem Urteil über ihn gemäß der anscheinenden Stärke oder Schwä-
che der Beweise" („By Free-Thinking then I mean, The Use of the Understand-
ing, in endeavouring to find out the Meaning of any Proposition whatsoever,
in considering the Nature of the Evidence for or against it, and in judging of it
according to the seeming Force or Weakness of the Evidence"; Collins 1713, 5).
Dieses Grundprinzip der Aufklärung, das in Deutschland später auch Kant mit
seiner Deutung des horazischen „sapere aude" aufstellte, vertraten die free-
thinkers generell; die Deisten wendeten es speziell auf die Religion an. Durch
die französische Ausgabe von Collins Werk ging ab 1714 die Bezeichnung „li-
bre-penseurs" in die französische Sprache ein.
Im 19. Jahrhundert bezeichneten sich diejenigen, die sich gänzlich von reli-
giösen Vorstellungen befreien wollten, häufig als „Freidenker" oder, wie N.,
als „Freigeister". Gerade in der Zeit, in der N. seine Morgenröthe verfasste, wur-
de das Freidenkertum zu einer programmatischen Bewegung mit Gruppenbil-
dung: 1880 wurde in Brüssel der internationale Freidenker-Bund' gegründet.
Im April 1881 konstituierte sich in Frankfurt a. Μ. der zunächst aus etwa 700
Mitgliedern bestehende ,Deutsche Freidenkerbund' als deutsche Sektion des
Internationalen Freidenkerbundes. Von Anfang an zeigte sich bei diesen Verei-
nigungen eine entschieden antiklerikale und antireligiöse Stoßrichtung. Den
Aufruf zur Gründungsversammlung des Deutschen Freidenkerbundes unter-
zeichnete unter anderen Otto von Corvin, der für seine Schrift Pfaffenspiegel
berühmt war. Den Vorsitz übernahm Ludwig Büchner, der Bruder des Dichters
Georg Büchner. In seinem erstmals 1855 erschienenen und alsbald sehr populä-
ren Buch Kraft und Stoff vertrat er eine für lange Zeit maßgebende anti-idealis-
tische und antiklerikale Weltanschauung. Seine Polemik gegen christliche
Glaubenssätze ging ins Grundsätzliche, vor allem weil er erklärte, dass Weltall,
Erde und Mensch in einem entwicklungsgeschichtlichen Prozess entstanden
sind. Als Darwins Erkenntnisse bekannt wurden, verkündete Ludwig Büchner
 
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