126 Morgenröthe
ihr vorgeordneten Zweck und alle Endursachen seien nichts als menschliche
Fiktionen" („naturam finem nullum sibi praefixum habere, et omnes causas
finales nihil, nisi humana esse figmenta"). Kurze Zeit nach Abschluss der Mor-
genröthe erbat N. am 8. Juli 1881 von Franz Overbeck „den Band Kuno Fischer's
über Spinoza" (KSB 6/KGB ΙΙΙ/1, Nr. 123). Schon am 30. Juli 1881 berichtete er
dem Freund von seinem Lektüre-Eindruck: „Ich bin ganz erstaunt, ganz ent-
zückt! Ich habe einen Vorgänger und was für einen! Ich kannte Spinoza
fast nicht: daß mich jetzt nach ihm verlangte, war eine ,Instinkthandlung'.
Nicht nur, daß seine Gesamttendenz gleich der meinen ist - die Erkenntniß
zum mächtigsten Affekt zu machen - in fünf Hauptpunkten seiner Lehre
finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade
in diesen Dingen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit -; die Zwecke -
; die sittliche Weltordnung -; das Unegoistische -; das Böse -; wenn freilich
auch die Verschiedenheiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in dem Un-
terschiede der Zeit, der Cultur, der Wissenschaft" (KSB 6/KGB III/1, Nr. 135).
Ausführlich dazu Andreas Urs Sommer 2012a: Nietzsche's Readings on Spino-
za. A Contextualist Study, Particularly on the Reception of Kuno Fischer. Um
1800 argumentierten auch Kant und Goethe vehement gegen die Physikotheo-
logie. Der alte Goethe schrieb am 29. Januar 1830 an Zelter: „So hatte mich
Spinoza früher schon im dem Haß gegen die absurden Endursachen gegläubi-
get. Natur und Kunst sind zu groß um auf Zwecke auszugehen, und haben's
auch nicht nötig, denn Bezüge gibt's überall und Bezüge sind das Leben".
Zeitgenössische Aktualität erhielt das Problem der falschen Übertragung
des Zweckdenkens auf die Natur durch Darwins aufsehenerregendes Werk The
Descent of Man. Die von Darwin beschriebene Evolution ist zweckmäßig-nütz-
lich ohne Zweck, d. h. ohne intentional bedingte Strukturen. Dies legte aus-
führlich und eindringlich argumentierend ein Autor dar, den N. hoch schätzte:
Afrikan Spir in seinem 1877 erschienenen Hauptwerk Denken und Wirklichkeit
(NPB). Unter der Überschrift „Bemerkungen über die Lehre Darwins" setzt er
sich mit der Problematik der Teleologie im Hinblick auf Darwin differenziert
auseinander. Er resümiert - und N. hat hier durch Markierungen am Rande
sein besonderes Interesse und seine Zustimmung signalisiert -: „Wenn nun
aber die positive Leistung der Lehre Darwin's und der mechanischen Naturer-
klärung überhaupt nie ihren Ansprüchen gleich kommen kann, so ist doch die
negative Leistung derselben, die Bekämpfung der Teleologie nichtsdestoweni-
ger ganz berechtigt und achtungswerth. Wenn es auch der Lehre Darwin's nie
gelingen wird, die Zeichen eines bildenden und ordnenden Princips in der Na-
tur, welches mit der Vernunft oder Intelligenz unverkennbare Verwandtschaft
zeigt, wegzuescamotiren, so hat sie doch andererseits nachgewiesen, dass kei-
ne Spur einer bewussten Zweckthätigkeit in den Wirkungen dieses Princips zu
ihr vorgeordneten Zweck und alle Endursachen seien nichts als menschliche
Fiktionen" („naturam finem nullum sibi praefixum habere, et omnes causas
finales nihil, nisi humana esse figmenta"). Kurze Zeit nach Abschluss der Mor-
genröthe erbat N. am 8. Juli 1881 von Franz Overbeck „den Band Kuno Fischer's
über Spinoza" (KSB 6/KGB ΙΙΙ/1, Nr. 123). Schon am 30. Juli 1881 berichtete er
dem Freund von seinem Lektüre-Eindruck: „Ich bin ganz erstaunt, ganz ent-
zückt! Ich habe einen Vorgänger und was für einen! Ich kannte Spinoza
fast nicht: daß mich jetzt nach ihm verlangte, war eine ,Instinkthandlung'.
Nicht nur, daß seine Gesamttendenz gleich der meinen ist - die Erkenntniß
zum mächtigsten Affekt zu machen - in fünf Hauptpunkten seiner Lehre
finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade
in diesen Dingen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit -; die Zwecke -
; die sittliche Weltordnung -; das Unegoistische -; das Böse -; wenn freilich
auch die Verschiedenheiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in dem Un-
terschiede der Zeit, der Cultur, der Wissenschaft" (KSB 6/KGB III/1, Nr. 135).
Ausführlich dazu Andreas Urs Sommer 2012a: Nietzsche's Readings on Spino-
za. A Contextualist Study, Particularly on the Reception of Kuno Fischer. Um
1800 argumentierten auch Kant und Goethe vehement gegen die Physikotheo-
logie. Der alte Goethe schrieb am 29. Januar 1830 an Zelter: „So hatte mich
Spinoza früher schon im dem Haß gegen die absurden Endursachen gegläubi-
get. Natur und Kunst sind zu groß um auf Zwecke auszugehen, und haben's
auch nicht nötig, denn Bezüge gibt's überall und Bezüge sind das Leben".
Zeitgenössische Aktualität erhielt das Problem der falschen Übertragung
des Zweckdenkens auf die Natur durch Darwins aufsehenerregendes Werk The
Descent of Man. Die von Darwin beschriebene Evolution ist zweckmäßig-nütz-
lich ohne Zweck, d. h. ohne intentional bedingte Strukturen. Dies legte aus-
führlich und eindringlich argumentierend ein Autor dar, den N. hoch schätzte:
Afrikan Spir in seinem 1877 erschienenen Hauptwerk Denken und Wirklichkeit
(NPB). Unter der Überschrift „Bemerkungen über die Lehre Darwins" setzt er
sich mit der Problematik der Teleologie im Hinblick auf Darwin differenziert
auseinander. Er resümiert - und N. hat hier durch Markierungen am Rande
sein besonderes Interesse und seine Zustimmung signalisiert -: „Wenn nun
aber die positive Leistung der Lehre Darwin's und der mechanischen Naturer-
klärung überhaupt nie ihren Ansprüchen gleich kommen kann, so ist doch die
negative Leistung derselben, die Bekämpfung der Teleologie nichtsdestoweni-
ger ganz berechtigt und achtungswerth. Wenn es auch der Lehre Darwin's nie
gelingen wird, die Zeichen eines bildenden und ordnenden Princips in der Na-
tur, welches mit der Vernunft oder Intelligenz unverkennbare Verwandtschaft
zeigt, wegzuescamotiren, so hat sie doch andererseits nachgewiesen, dass kei-
ne Spur einer bewussten Zweckthätigkeit in den Wirkungen dieses Princips zu